Copyright: A.T.Schaefer/ Staatsoper Stutttgart
Peter Tschaikowskys „Pique Dame“ am 6.1.2019 in der Staatsoper/STUTTGART
ROMANTIK DER HINTERTREPPE
Die unheimliche Welt Dostojewskijs hat in der „Pique Dame“-Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito eine deutliche Rolle gespielt. Gezeigt wird hier auch eine zerrissene Seele, die im Dazwischen steckt. Modest Tschaikowsky hat dies in seinem Libretto nach Alexander Puschkins Erzählung herausgearbeitet. Und Jossi Wieler und Sergio Morabito gehen diesen Weg konsequent weiter. Die wirre Ansammlung von szenischen Kulissen gipfelt in der Hintertreppe als dämonischer Unort, der in einem undurchsichtigen Getuschel versinkt.
Im Zentrum des Geschehens steht das Geheimnis der alten Gräfin von drei unfehlbaren Karten, das sie einst als „moskowitische Venus“ aus Paris mitgebracht haben soll. Für German wird diese seltsame Gräfin und ihr Geheimnis zur Obsession. Er wird deswegen die Liebe zu Lisa verraten, die Selbstmord begeht. Zuletzt setzt er auf die falsche Karte, verliert alles und begeht ebenfalls Selbstmord. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben dieses Schlussbild höchst suggestiv betont, indem sie noch einmal die tote Gräfin erscheinen lassen, die von German ganz unmittelbar und hemmungslos Besitz ergreift.
Das sind dann packende Szenen, die sich einprägen. Bühne und Kostüme von Anna Viebrock unterstreichen diesen unverwechselbaren „Schwarztreppen-Roman“. Diese „Hintertreppe“ wird gleichsam zum Synonym für die Kolportage an sich. Das Dekor mit Sommergarten, Lisas Salon und dem Maskenball bei einem hohen Würdenträger ist Trugbild und Spuk zugleich. Und die drehbare Bühne offenbart nochmals ein geteiltes Seelenleben unterschiedlichster Wahrnehmung. Noch heute fehlen in Russland Teile der hölzernen Treppengeländer ehemaliger Bürgerhäuser. Das Stadtpalais der Gräfin Golyzina, Vorbild für die Zeichnung der alten Gräfin, wurde in sowjetischer Zeit zu einer Poliklinik. Darauf haben Jossi Wieler und Sergio Morabito deutlich Bezug genommen (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Rebecca Bienek). In dieser suggestiven und irgendwo doch auch schlichten Inszenierung wird die Spielleidenschaft des Protagonisten zur „Büchse der Pandora“. Die Gräfin mutiert dabei zum Geist aus der Flasche, der zuletzt nicht mehr kontrollierbar ist. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben in ihrer Regiearbeit durchaus unterstrichen, dass sich die Gräfin und German gleich zu Beginn als schicksalhaft füreinander bestimmt erkennen. Die Gräfin ist dabei auch die treibende dämonische Kraft, die in German die Spielsucht weckt.
Erin Caves (German). Copyright: A.T.Schaefer/ Staatsoper Stuttgart
Unter der impulsiv-leidenschaftlichen Leitung der Grazer Generalmusikdirektorin Oksana Lyniv entwickelt sich das Werk bei dieser überzeugenden Aufführung auch musikalisch zum Psychothriller. Das markante Motiv der Gräfin ist schon im Vorspiel in den Blechbläsern zu vernehmen und kehrt im Verlauf der Oper in vielfacher Weise wieder. Gerade diesen Aspekt hat die Dirigentin Oksana Lyniv subtil und differenziert zugleich unterstrichen. Die Aufführung besitzt gerade in den lyrischen Passagen aber auch eine betont weibliche Komponente. Helene Schneiderman (Mezzosopran) bietet hier als Gräfin eine faszinierende Charakterisierung und gleichsam ein sensibles Rollenporträt, das ganz anders ist als die brüchige Intonation der unvergessenen Martha Mödl. Hervorragend gestaltet Erin Caves (Tenor) als verzweifelter German seine weit ausgreifende Kantilene, mit der er in der Terrassenszene Liebesgeständnisse von Lisa erpresst. Oksana Lyniv hat mit dem Staatsorchester Stuttgart einige Details der Partitur facettenreich akzentuiert – so beispielsweise die Festpolonaise „Siegeslärm erschalle“ und die als „Bourbonen-Hymne“ angelegte Melodie „Vive Henri IV.“ Liebessehnsucht und Spielleidenschaft nehmen bei dieser opulenten Wiedergabe einen immer größeren Raum ein, die Drohung mit der Ballade wird für German zu einem schauerlichen Leitspruch.
Eine ganz ausgezeichnete Leistung bietet die norwegische Sopranistin Lise Davidsen, die in der laufenden Spielzeit unter anderem als Elisabeth bei den Bayreuther Festspielen gastieren wird. Sie singt die Lisa dann auch an der New Yorker Met. Und sie trifft den hochdramatischen Nerv dieser Musik exzellent. So kommt es schon im ersten Bild beim Spaziergänger-Idyll zum enormen Aufruhr der Elemente. Die skurrilen Zeiten des sterbenen Rokoko mit seinen Mozart-Anklängen erleben im Gesellschaftsbild in der ersten Hälfte des zweiten Aktes bei der Ballettszene eine eigenartige Auferstehung. Oksana Lyniv gelingt es mit dem Staatsorchester Stuttgart immer wieder, die leitmotivartigen Verknüpfungen minuziös offenzulegen. Die Ostinato- und Pizzicato-Passagen wirken so ausgesprochen feinnervig. Dies gilt außerdem für die sensible Behandlung des Streicherapparats. Die Phrasierung der „naturalistischen“ Szenen gelingt vorbildlich. Das kommt auch den anderen Sängerinnen und Sängern zugute – allen voran dem sonoren Bariton Petr Sokolov als Fürst Jeletzki, der sich für den Verlust Lisas an German rächen will. In weiteren Rollen fesseln und begeistern gleichermaßen Gevorg Hakobyan als Tomski, Torsten Hofmann als Tschekalinski, Michael Nagl als Surin, Christopher Sokolowski als Tschaplitzki, Jasper Leever als Narumov, Stine Marie Fischer als Polina, Anna Buslidze als Gouvernante und Yuko Kakuta als strahlkräftige Mascha. Der Staatsopernchor Stuttgart mitsamt dem Kinderchor (Einstudierung: Manuel Pujol) interpretiert die Einflüsse russischer Volks- und Kirchenlieder in bewegender Weise. Polinas Tanzlied mit Lisas Freunden zeigt so ebenfalls den deutlichen Charakter der „Volkslied-Melodie“. Die Arie Tomskis mit dem wiederholten Ausruf „Drei Karten, drei Karten, drei Karten!“ belebt das Geschehen bei dieser Wiedergabe in atemloser Weise. Für diese insgesamt beeindruckende Vorstellung gab es wahre Beifallsstürme.
Alexander Walther