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STUTTGART/ Staatsoper: PARSIFAL als Stream. Erlösung und Endzeitstimmung

03.04.2021 | Oper international

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Copyright: Martin Sigmund

„Parsifal“ von Richard Wagner in der Staatsoper am 3.4.2021 als Stream/STUTTGART

Erlösung und Endzeitstimmung

Calixto Bieito bietet in seiner Inszenierung von Wagners Bühnenweihfestspiel (Bühne: Susanne Gschwender; Kostüme: Merce Paloma) eine völlig neue Sichtweise des Sagenstoffes. Parsifal ist hier in einer Männersekte gefangen. Das Ambiente erinnert an eine obskure Naturlandschaft nach einer Atombombenexplosion – und die Menschen laufen mit Gasmasken herum und warten verzweifelt auf ihre Erlösung. Zwischen  den monumentalen Ruinen spielen sich gewaltige seelische Dramen ab. Kundry erkennt als Verdammte in einer Waldlandschaft eine schwangere nackte Frau – und sie scheint später selbst schwanger zu werden. Parsifal ist zunächst auch bei Bieito ein tumber Tor, der mit seiner Umgebung nicht viel anzufangen weiß. Die Schwäne und Engel werden auf der Bühne zu einer Figur, Kinder sind den Ereignissen schutzlos ausgeliefert. Parsifal tötet in Unwissenheit einen Schwan, bis er zu einer neuen Erkenntnis gelangt. Der Chor tritt mit Plakaten wie „Wo ist Gott?“ und „Rette mich?“ auf. Im zweiten Aufzug legt der Zauberer Klingsor überall Feuer. Kundry kann er nicht völlig besitzen, sie ergreift vielmehr die Herrschaft über ihn und Parsifal und gebärdet sich durchaus als „Hexe“. Die Blumenmädchen wirken wie weibliche Zombies. Ihre zackigen Bewegungen erinnern an den „Tanz der Vampire“. Doch Parsifal tötet Klingsor schließlich mit seinem Speer und überwältigt Kundry, die auf seine Liebe und Leidenschaft vergeblich hofft. Im dritten Aufzug stehen neben dem zum engelhaften Ritter erhobenen Parsifal der verfluchte Amfortas und sein Vater Titurel im grellen Mittelpunkt des Geschehens. Amfortas wird durch Parsifals heiligen Speer von seinen schrecklichen Leiden erlöst.

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Attila Jun, Daniel Kirch. Copyright: Martin Sigmund

Titurel ist bei Calixto Bieito eine starke Figur, die zuletzt nackt herumirrt und nach „Erlösung“ ruft. Im Sarg wird Titurel von den Gralsrittern schließlich mit Äxten erschlagen. Doch zuletzt erwachen alle wieder zum Leben und trotzen der ausweglosen Apokalypse auf der Bühne. Trotz einiger verstörender Szenen gelingen Calixto Bieito hier immer wieder alptraumhafte Bilder, die unter die Haut gehen. Unter der impulsiven musikalischen Leitung von Sylvain Cambreling überzeugt das Staatsorchester Stuttgart mit einer aufwühlend-temperamentvollen Musizierweise. Insbesondere das Spiel der Streicher fesselt mit ausdrucksvollen Legato-Bögen ohne störendes Vibrato. Die Diatonik bei der sakralen Welt des Grals leuchtet hier durchaus ergreifend hervor – und erregte Chromatik kennzeichnet die dunkle Welt Klingsors. Sehr durchsichtig lässt Cambreling außerdem den „Karfreitagszauber“ musizieren. Markus Marquardt (Bariton) kann seinen wildleidenschaftlichen Amfortasklagen heftigen Ausdruck verleihen, während Atilla Jun (Bass) als sich selbst geisselnder Gurnemanz überzeugt. Daniel Kirch (Tenor)  ist ein bemerkenswert strahlkräftiger Parsifal, der dem robusten Bassisten Tobias Schabel als Klingsor fulminant Paroli bietet. Seine plötzliche Trennung von Kundry mit den chromatisch niederstürzenden Achtelnoten packt den Zuhörer unmittelbar.  Eine herausragende Leistung vollbringt ferner Christiane Libor als stimmgewaltige Kundry, deren Sopran bei der berühmten Passage „Ich sah – Ihn – Ihn – und – lachte…“ sicher durch zwei Oktaven vom hohen H zum Cis hinabstürzt. In weiteren Rollen gefallen Matthias Hölle als bewegender Titurel, Heinz Göhrig als erster Gralsritter und Michael Nagl als zweiter Gralsritter. Wie die Gralsstimmung hier in As-Dur eingefangen wird, ist imponierend. Dabei wählt Sylvain Cambreling keineswegs betonbreite Tempi wie etwa Hans Knappertsbusch, sondern lässt das Orchester zügig und elektrisierend musizieren. Aus den tiefen Streichern steigt das Grals-Urerlebnis hier in geheimnisvoller Weise herauf. Wagners Alterswerk erhält dabei fast jugendliche Züge. Übrigens hatte Wagner zur Entstehungszeit an die junge Judith Gautier geschrieben: „Hilf mir…habe mich lieb: dafür wollen wir aber nicht den protestantischen Himmel abwarten, da es dort sicher sehr langweilig sein wird…“ Cambreling betont als Dirigent bei dieser Partitur eher einen überwältigend-rasanten Ausdruck. Die „jugendlichen“ Momente sollen hier offensichtlich nicht fehlen. Die Blumenmädchen Josefin Feiler, Estelle Kruger, Fiorella Hincapie, Mirella Bunoaica und Aoife Gibney zeigen allesamt starke gesangliche Leistungen (Stimme aus der Höhe/Blumenmädchen: Stine Marie Fischer).  Auch die vier Knappen Josefin Feiler, Diana Haller, Torsten Hofmann und Moritz Kallenberg überzeugen mit gesanglicher Präsenz. So hinterlässt diese vom Publikum stark bejubelte „Parsifal“-Vorstellung  vor allem aufgrund der überragenden gesanglichen Leistungen einen in sich geschlossenen Eindruck. Die Schluss-Wechselstimmung von As-Dur nach Des-Dur wird in sphärenhafter Schönheit ausgekostet. Da lässt sich Sylvain Cambreling zuletzt doch noch in meditativer Weise Zeit. Und der Staatsopernchor Stuttgart mitsamt dem Kinderchor (Einstudierung: Christoph Heil, Johannes Knecht) brilliert in ergreifender Weise nicht nur beim „chorus mysticus“.  

Alexander Walther

 

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