Opernperformance „Sancta“ von Florentina Holzinger am 2. November 2025 in der Staatsoper/STUTTGART
Die Selbstbefreiung der Susanna

Foto: Matthias Baus
Es war die letzte Vorstellung in dieser Saison. Paul Hindemiths einaktige Oper „Sancta Susanna“ aus dem Jahre 1922 zeigt, wie eine Nonne brutale Bestrafung durch ihre sexuelle Selbstbestimmung erfährt. Die suggestiv-expressiven Klangfarben Hindemiths werden durch zeitgenössische Kompositionen von Johanna Doderer, Born in Flamez und Stefan Schneider ergänzt. Es ist aber auch ein Akt der Selbstbefreiung der Susanna. Die Staatsoper betont, dass es sich hier um keine Verunglimpfung des Glaubens und der Kirche handeln soll. Von verschiedenen Seiten hatte es in diesem Zusammenhang immer wieder Kritik gegeben. Der Dirigent Fritz Busch hatte die Uraufführung von Hindemiths Oper übrigens 1922 abgelehnt, weil er das Werk als obszön und blasphemisch empfand. Die Situation in einem Nonnenkloster wird mit liturgischen Kompositionen von Bach, Gounod und Rachmaninow angereichert. Religiöse Gewalt bezieht sich auch in Hindemiths Werk auf Sexualität. Neben lesbischen Szenen werden ebenso extreme Situationen an einer Glocke oder akrobatische Nummern an einem riesigen Klettergerüst gezeigt. Das Staatsorchester Stuttgart beschwört unter der impulsiven Leitung von Marit Strindlund gewaltige dynamische Steigerungen in Crescendo-Form bis hin zur ultimativen Gotteserfahrung. Immer reichere Kontrapunktierung und wachsender Orchestereinsatz fesseln den Hörer vor allem gegen Ende, wenn Susanna von ihren Mitschwestern verdammt wird. Die geschlossenen musikalischen Formen werden hier minuziös herausgearbeitet. Dem Wesen des Tonsatzes geht die Dirigentin Marit Strindlund auf den Grund. Die Bekenntnisopern „Mathis, der Maler“ und „Harmonie der Welt“ sind manchmal ganz versteckt herauszuhören. In „Sancta Susanna“ wird Theater so zum öffentlichen Ritual. Man ist ständig auf der Suche nach Spektakel, Schaulust und Magie. Kreuzigungswunden, Penetration, Kannibalismus und Transformation werden zur Schau gestellt. Und die Sixtinische Kapelle entwickelt sich zur Kletterwand, die schließlich einstürzt. Die Oper wird tatsächlich zum Rockmusical. Gott agiert schließlich als Roboter – und die Heilige Messe mutiert zum Spektakel mit Weihrauch. Show-Magierinnen beherrschen die Szene, schließlich tritt sogar ein weiblicher Jesus Christus auf. Noch stärker sind aber die Chorszenen mit den hervorragenden Sängerinnen des Staatsopernchores Stuttgart in der Einstudierung von Manuel Pujol.

Foto: Matthias Baus
Da öffnen sich immer wieder die Saaltüren, es gibt eine beeindruckende akustische Erweiterung. Bühne und Kostüme von Nikola Knezevic ergänzen Regie und Choreografie von Florentina Holzinger in einem überaus weiträumigen Ambiente. Zum Schluss kommt es sogar zu galaktischen Assoziationen: Die unendliche Weite des Weltalls wird beschworen! Neben dem leidenden Körper thematisiert man hier aber ebenso feministische Pornografie, es herrscht Bauarbeit am Heiligsten. Weitere Kompositionen und Arrangements von Nadine Neven Raihani, Christopher Kandelin, Gibrana Cervantes, Josephinex Ashley Hansis, Karl-Johann Ankarblom sowie Odette T. Waller und otay:onii beschwören einen harmonisch ungeheuer vielschichtigen Klangkosmos mit sehr vielen thematischen und motivischen Verbindungen. Diese Verzweigungen und Verästelungen werden auf der Bühne durch verschiedene Darbietungen ergänzt – allen voran nackte Nonnen, die mit Roller-Skates über das gehobene Bühnen-Parkett rasen! Manche Protagonistinnen hängen auch an riesigen Seilen und jonglieren so in ungeahnten Höhen. Der sperrige Hindemith wird mit eingängigen Songs angereichert, wobei die Schlussnummer „Don’t Dream it, Be it“ beim Publikum am besten ankommt. Die Arbeit wurde von der Zeitschrift „Theater heute“ zur „Inszenierung des Jahres“ gekürt.
Jubel, „Bravo“-Rufe, Ovationen.
Alexander Walther

