„Nabucco“ von Verdi in der Staatsoper Stuttgart
GEBALLTE KRAFT IN GOLD
„Nabucco“ von Giuseppe Verdi als Wiederaufnahme am 25. 2. 2017 in der Staatsoper/STUTTGART
Rechts sehen wir Marco Vratogna in der Titelrolle. Copyright: Martin Sigmund/ Staatsoper Stuttgart
Rudolf Frey verlegt die Oper mit dem biblischen Thema in unsere moderne Zeit, wobei im ersten Teil die Bühne (Ben Baur) fast allzu kahl und schwarz erscheint. Das hebräische Volk ist hier der Invasion der Babylonier preisgegeben. Es folgt die Zerstörung des Tempels und die Verschleppung ins babylonische Exil. Nabucco erklärt sich selbst zum Gott und wird deswegen entmachtet. Aus Angst um seine Tochter findet er schließlich zum Gott Israels. Rudolf Frey erzählt dies im zweiten Teil in opulenten Bildern. Mehrere Goldvorhänge schließen hier das Innere des Palastes ein. Nachdem sich eine Stahlplatte herabsenkt, entdeckt man im Hintergrund eine riesige Tafel, auf der Nabucco mit seinen Töchtern sitzt. Das Gerüst wird in geheimnisvoller Weise hochgefahren. Man spürt, dass sich der Raum allmählich verändert. Und es regnet goldene Sterne.
Deutlich wird bei dieser Aufführung, dass „Nabucco“ eindeutig eine Choroper ist. Der Staatsopernchor ist von Johannes Knecht wieder in eindrucksvoller Weise einstudiert worden. So gerät die berühmte Passage „Va pensiero“ („Flieg, Gedanke“) hier eindeutig zu einem akustischen Höhepunkt im Unisono. Das jüdische Volk befindet sich bei Rudolf Frey ebenso in babylonischer Gefangenschaft. Der spirituelle Charakter des Geschehens wird so keineswegs geleugnet. Der traumatische Charakter des ersten Aktes mit der Zerstörung des Tempels wird hier nicht verleugnet. Die Geschichten der Protagonisten erweisen sich als Schlachtfeld. Abigaille vertritt als uneheliches Kind von Nabucco die Macht der Götzen auf Erden. Das zeichnet Rudolf Frey facettenreich nach. Sie ist auch eine Marionette in den Händen des Baal-Priesters. In der Inszenierung Freys wird aber auch deutlich, wie stark Nabucco mit seiner legitimen Tochter Fenena verknüpft ist. Dies gilt auch dann, wenn Fenena ihm gesteht, dass sie zum Judentum übergetreten ist. Im ganzen Stück hängen die Entscheidungen von Fenena ab, das wird immer wieder gut deutlich. Und der jüdische Prinz Ismaele befindet sich zwischen den Stühlen.
Ezgi Kutlu (Fenena). Copyright: Martin Sigmund/ Staatsoper Stuttgart
Frey nimmt dies wörtlich, denn Stühle spielen in seiner Inszenierung eine große Rolle. Auch der große Chor agiert mit Stühlen. Angesichts des drohenden Verlustes seiner Tochter wird der despotische König Nabucco plötzlich zum Menschen. Er macht einen psychologisch interessanten Verwandlungsprozess in vielen Facetten durch. Wenn Nabucco sich schließlich zum Gott erklärt, bricht ihm die Stimme. Er wird von diesem Gott mit Wahnsinn geschlagen – die Wucht dieser Szene lässt auf der Bühne nichts zu wünschen übrig. Nabucco ist jetzt überall verwundbar. Dies macht der markante Bariton Marco Vratogna sehr überzeugend deutlich. Seine Stimme unterliegt hier wirklich einem nuancenreichen Verwandlungsprozess, dessen Klangfarbenreichtum beachtlich ist. Ekaterina Metlova brilliert als Abigaille, deren gesangliche Sprünge über zwei Oktaven hinweg an machtvoller Sopran-Fülle nichts zu wünschen übrig lassen. Der Kantabilität eines Bellini wird aber auch Liang Li als Hohepriester Zaccaria mit sonorem Bass gerecht. Anklänge an Verdis „Macbeth“ arbeitet der umsichtige Dirigent Marco Comin mit dem glänzend disponierten Staatsorchester Stuttgart facettenreich heraus. Dies zeigt sich vor allem im Streitgespräch Abigailles mit dem entmachteten Nabucco und Abigailles geheimnisvollem Englischhorn. Rudolf Frey will bei seiner Inszenierung deutlich machen, wie verführbar Gruppen in einer Gesellschaft sein können. Gerade diesen Aspekt arbeitet der vorzügliche Staatsopernchor leuchtkräftig heraus. Die Familie als Keimzelle der Gesellschaft sorgt für große, gesellschaftlich ausgetragene Konflikte. Es finden sich gleichberechtigte Übersetzungen für Babylon und das Judentum. Wenn Baals Götzenbild schließlich zusammenbricht, kommen Wucht und Feuer dieser Musik voll zur Geltung.
Gergely Nemeti (Ismaele) und Anna Smirnova (Abigail – in einer früheren Vorstellung). Copyright: Martin Sigmund/ Staatsoper Stuttgart
Der starke melodische Ausdruck des Orchesters überträgt sich gut auf die Sängerinnen und Sänger, die dem Brio ihrer Partien immer neue Ausdrucksnuancen abgewinnen. Ezgi Kutlu als Fenena agiert mit beweglichem Mezzosopran, während Gergely Nemeti als Ismaele seiner Tenorstimme leuchtkräftige Kantilenen verleiht. In weiteren Rollen gefallen Ashley David Prewett als Oberpriester des Baal, Kai Kluge als Offizier Abdallo und Esther Dierkes als Zaccarias Schwester Anna. Die großen Chöre verschmelzen mit den Solostimmen in bemerkenswerter Weise. Dafür sorgt auch der Dirigent Marco Comin. Einzelne Details wie etwa bei der Ansprache Zaccarias an sein Volk stechen bei dieser Wiedergabe grell hervor. Wenig wechselnde Tonhöhen der ersten Strophe und weiträumige Koloraturen erreichen eine ungeahnte Klarheit und Intensität. Das gleiche gilt für die starke Differenziertheit der rhythmischen Anlage. Das Herabsinken der Melodie nach Aufgabe der Dreiklangsmelodik erreicht eine erstaunliche Akzentuierung. Die Spannungskraft der Intervalle ist bei dieser Interpretation von nie nachlassender Wirkungskraft. Freigesetzte Energie über fallender Oktave entfaltet einen geradezu irisierenden Ausdruckszauber, der die Gesangsstimmen zuweilen leidenschaftlich-schwärmerisch trägt. Die Aneinanderrreihung des aus dem Dreiklangsmotiv gewonnenen rhythmischen Gedankens führt zu immer neuen klanglichen Höhepunkten und Spannungssteigerungen. Insbesondere die vorwärtstreibende Bewegung dieser Musik mit ihrer gewaltigen Emphase arbeitet Marco Comin mit dem Ensemble überzeugend heraus.
Es ist eine Aufführung, deren musikalische Aussage eindeutig mehr überzeugt als die nicht immer in jeder Etappe gleich gut geglückte Inszenierung (Kostüme: Silke Willrett, Marc Weeger). Die Choreografie von Beate Vollack passt sich den rhythmischen Prozessen der Musik in eindringlicher Weise an. Liang Li lässt als eindrucksvoller Zaccaria seine Cantabile-Melodie bis zum Höhepunkt im „periodo di cadenza“ ansteigen. Überhaupt brechen die harmonischen Verdichtungen von Verdis Musik in den Schluss-Takten nochmals mit unverminderter Gewalt und ungeheurem Feuer lodernd hervor. Extreme Sprünge der Melodie und ihre harmonische Ausweitung (Sextvorhalt beim Wort „fidando“) erreichen so ein klar umrissenes akustisches Gerüst. Selbst die Nähe zu Donizettis „Lucrezia Borgia“ (Cavatina des Don Alfonso) bricht bei dieser Interpretation in verblüffender Weise hervor – etwa bei der Nachricht Ismaeles vom Anrücken Nabuccos. Die halbe Note dominiert allerdings bei Verdi, der in „Nabucco“ das gesamte Geschehen noch viel beweglicher und unmittelbarer macht. Die Erweiterung der Form triumphiert. Zuletzt gab es Ovationen für das gesamte Team (Dramaturgie: Sergio Morabito, Patrick Hahn).
Alexander Walther