Staatsoper Stuttgart
„LA SONNAMBULA“ 12.7.2024 (WA 7.7.) – ein ungebrochener Erfolg
Claudia Muschio (Amina), Helene Schneiderman (Teresa) und Adam Palka (Conte Rodolfo). Foto: Martin Sigmund
Im 19. Jahrhundert ein riesiger Erfolg, der damals sogar den von Vincenzo Bellinis Hauptwerk „Norma“ übertroffen hatte, begann der Ruhm der 1831 am Mailänder Teatro Carcano uraufgeführten Nachtwandlerin mehr und mehr zu verblassen. Erst im Zuge der Renaissance der Belcanto-Oper, als sich Primadonnen der anspruchsvollen Titelrolle annahmen, geriet das Stück wieder ins Bewusstsein der Opernhäuser. Der Ruf eines seichten, im dörflichen Milieu angesiedelten Rührstücks stand einer größeren Verbreitung auch im Weg, doch im Falle der Stuttgarter Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito in einem von Holz dominierten, weit in die Tiefe führenden Wirtshausraum (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock), die 2012 Premiere hatte und jetzt nach einer längeren Zäsur, während der die Produktion an die Deutsche Oper Berlin ausgeliehen wurde, wieder auf die hiesige Bühne zurück kehrte, traf gerade dieser Umstand, nämlich einfache Menschen wie Du und ich in einer abgeschotteten Bergwelt-Gesellschaft anstatt Göttern, gekrönten Häuptern und Adeligen vorgeführt zu bekommen, den Nerv des Verständnisses und der Teilhabe am Leid eines unrechtmäßig der Untreue beschuldigten Waisenmädchens. Mit geschliffener Detailarbeit am beständigen Beobachten der Mitspieler, an der Interaktion, ist es dem oft umstrittenen Regie-Duo hier mustergültig gelungen präzise Charaktere zu schaffen und ihre Befindlichkeiten unter die Lupe zu nehmen. So ist hier allein das Spiel, das Miteinander aller Akteure bis zu den in lauter individuelle Typen transparent gezeichneten Dorfbewohnern ein kurzweiliges Vergnügen, das in Verbindung mit der melodisch gefälligen und sich immer wieder virtuos steigernden Musik das Publikum auch jetzt mit einem neuen Hauptpaar und Dirigenten zum Finale hin richtiggehend elektrisierte. Auch wenn am Ende Aminas musikalisch unmissverständlicher Glückstaumel szenisch nicht die rechte Entsprechung findet, wenn alle Beteiligten fast isoliert und regungslos auf ihren Plätzen verharren. Die sogenannten Lieti fine passen wohl einfach nicht in die Sichtweise vieler Inszenatoren.
Claudia Muschio, aus dem Opernstudio hervorgegangen und vor nicht einmal zwei Jahren mit ihrer ersten großen Partie, der Adina in Donizettis „LElisir d’Amore“ auf Anhieb ins Bewusstsein des Publikums getreten , ist in der Titelrolle in die großen Fußstapfen der bisherigen Stuttgarter Amina Ana Durlovski getreten, die Bellinis gerühmte melodie lunghe mit schier unendlichem Atem und fast zum Zerreißen unhörbaren Zwischentönen erfüllt hatte. Muschio geht die heikle Partie der Gratwanderung glaubwürdiger Hypersensibilität und Naivität ganz anders an, auch weil ihr Sopran bereits jetzt einen ordentlichen Biss dramatischer Substanz hat, mit der sie die Rolle nicht ganz so entrückt anlegt, dafür lebensnaher, forscher und auch mutiger in der Phrasierung. In der Kombination mit einer lyrischen Basis weiter Bögen und nicht ganz so ausgeprägt selbstverständlichen Koloratur-Akrobatik baut sie abwechslungsreiche Spannungen auf, die sich in der durchschlagskräftigen kernigen Höhe mit bisweilen noch etwas hart angesetzten Spitzentönen entladen.
Charles Sy (Elvino), Claudia Muschio (Amina) und Chor. Foto: Martin Sigmund
Es ehrt ein Haus, wenn es die Partie des reichen, eifersüchtigen und mehrfach an den Frauen verzweifelnden Elvino aus dem Ensemble besetzen kann. Zweifellos ist es auch eine passende Gelegenheit für den ebenfalls aus dem Opernstudio kommenden Charles Sy als lyrischer Tenor sein Repertoire zu erweitern. Zweifellos ist er mit seinem schönen, weichen und kultiviert geführten Tenor ein idealer Belcanto-Interpret. Zweifellos hat er mit der Wahl des Falsetts anstatt der (damals von Bellini als Sensation eingeführten) Bruststimme bei den Extremnoten im zweiten Akt Mut bewiesen und sich die Tücken geschickt für seine Möglichkeiten zurecht gelegt, wenn da nicht sein in den Ensembles und bei Einsatz des vollen Orchesters begrenztes Volumen wie auch immer wieder ein Mangel an beherzter und temperamentvollerer Öffnung der Stimme die Wirkung seines Einsatzes schmälern würde. Ein Fakt, der gerade im Rahmen der ansonsten so voll zupackenden und intensiven Mitspieler nicht verleugnet werden kann. Aufgrund seiner trotz aller Eifersucht sympathischen Rollengestaltung bezog ihn das Publikum erfreulicherweise in seine Begeisterung mit ein.
Adam Palka ist mit seinem enorm tragfähigen, in allen Lagen großzügig ausgeprägten und sicher beherrschten Bass fast eine Luxus-Besetzung für den zunächst unerkannt auftretenden Grafensohn Rodolfo. Mit reichhaltiger Differenzierung und würdiger Präsenz zeigt er diesen als charmanten wie autoritären Frauenhelden. Helene Schneiderman stellt die zwischen Strenge und Liebe zu Amina pendelnde Ziehmutter Teresa wieder mit viel Persönlichkeit auf die Bühne, und ist auch vokal eine unverändert starke Kraft. In der dringlichen Verteidigung Aminas lässt ihr Mezzosopran nach wie vor nichts an Klangreichtum und Durchsetzungsfähigkeit vermissen. Catriona Smith bereitet die zwischen Frustriertheit und überdrehtem Glück taumelnde Lisa immer noch sichtbar Vergnügen, gepaart mit ihrem unverändert beweglichen, eine gewisse Überspitzung und Herbheit passend kennzeichnenden Sopran. Andrew Bogard wertet ihren ungehört bleibenden Anwärter Alessio mit Charme und profundem Bass-Bariton auf.
Der Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Bernhard Moncado) allein ist schon einen Aufführungsbesuch wert, so profiliert setzt sich jeder einzelne als Angehöriger einer abergläubischen, engstirnigen und doch auch Anteil an Aminas Unglück annehmenden Dorfgemeinschaft in Szene, die ihren umfangreichen Part mit Wohlklang und feinen Nuancen des Ausdrucks zum Besten gibt.
Auch das Staatsorchester Stuttgart hebt das Werk unter der agogisch flexiblen Leitung von Andriy Jurkevych mit beherztem Zugriff und einfühlsamen solistischen Pointierungen der Bläser über den Ruf des bereits zitierten Rührstücks hinaus. Lediglich einige Tutti-Ballungen zu den Abschlüssen der Nummern geraten etwas zu knallig.
Alles in allem ein unveränderter Höhepunkt im Repertoire, der auch jetzt wieder enthusiastische Reaktionen hervorrief.
Udo Klebes