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STUTTGART/ Staatsoper: LA BOHÈME am Weihnachtsfeiertag

Das Sterben wird öffentlich

26.12.2018 | Oper

Siegfried Laukner, Josefin Feiler, Johannes Kammler. Foto: Martin Sigmund
 
Giacomo Puccinis „La Boheme“ am 26. Dezember 2018 in der Staatsoper/STUTTGART
DAS STERBEN WIRD ÖFFENTLICH

Puccini, der ein Freund schneller Autos und schneller Liebschaften war, gründete während der Arbeit an „La Boheme“ einen Männerclub, dessen Statuten recht seltsam waren: „Klugheit nicht zugelassen, außer in Ausnahmefällen“.

Andrea Moses präsentiert in Stuttgart in diesem Zusammenhang eine durchaus kluge, aber auch hintersinnige Inszenierung, die sich dem Künstlerthema in ganz besonderer Weise annimmt. Mimi wird hier am Ende in Marcellos Atelier ebenfalls zum Kunstobjekt, bevor sie ihrer Lungenkrankheit endgültig erliegt und stirbt. Die Produktionszusammenhänge von Kunst werden bei Andrea Moses in ganz ungewöhnlicher Weise beleuchtet. Im farbigen und abwechslungsreichen Bühnenbild des Streetart-Künstlers Stefan Strumbel kann sich die Poesie dieses Werkes durchaus entfalten (Co-Bühnenbildnerin: Susanne Gschwender).

Die verkrachte Existenz dieser jungen Künstler wird gleichsam grell und erbarmungslos beleuchtet. Das Private und Öffentliche gerät plötzlich in den Mittelpunkt. Das Geschehen hat Andrea Moses in die schwäbische Gegenwart verlegt. In den Video-Aufnahmen von Adrian Langenbach und Anne Bolick wird das langsame Sterben Mimis öffentlich. Rodolfo findet in der Wäschestickerin Mimi tatsächlich für kurze Zeit eine inspirierende Muse. Auch er ist am Schluss bei den Video-Aufnahmen in voller Größe zu sehen. Im zweiten Bild fasziniert den Zuschauer dann ein weihnachtlicher Verkaufstempel, wo sich Käufermassen und Verkäuferscharen durch die Gassen wälzen. Die Bohemiens nehmen Mimi vor dem Cafe Momus in ihren seltsamen Bund auf. Hemmungslos inszeniert die Vorstadt-Diva Musetta einen Skandal. Und der Verkaufstempel versinkt im Chaos.


Copyright: Martin Sigmund

Im dritten Bild sieht man in öden Hinterhöfen eine winterliche Landschaft. Es schneit. Rodolfo ist verzweifelt wegen Mimis tödlicher Krankheit. Musetta und Marcello trennen sich. Die suggestiven Bilder schwirren atemlos an den Zuschauern vorüber. Und im vierten Bild stürzt die sterbende Mimi in das öde und grelle Licht des trügerischen Kunstmarktes. Zahlreiche Bildschirme reflektieren das Geschehen.

Andrea Moses geht Puccinis Emotionen bei ihrer bunten Inszenierung allerdings nicht aus dem Weg. Und das ist gut so. Gerade die erstaunlichen handwerklichen Fähigkeiten Puccinis rücken so in ein grelles Licht (Kostüme: Anna Eiermann). Die Spannung zwischen Musik und Inhalt wirkt also durchaus elektrisierend. Der dritte Akt wird zu einer tiefen Auseinandersetzung mit dem Tod. Dadurch bekommt er eine andere Dimension als sonst. Rodolfo flieht vor Mimi, weil er die Konfrontation mit dem Tod nicht mehr erträgt. Die Problematik der Kreativität und des Künstlerdaseins an sich wird von Andrea Moses hier trotz aller szenischen Modernität sehr eindringlich herausgearbeitet. Die Verzweiflung der jungen Männer stellt Andrea Moses (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Carmen C. Kruse) sehr drastisch heraus.

Eine erfreuliche Überraschung ist auch die musikalische Leistung des Staatsorchesters Stuttgart unter der temporeichen Leitung von Thomas Guggeis. Er lässt dieses Werk transparent und durchsichtig musizieren. So können sich auch der von Bernhard Moncado subtil einstudierte Staatsopernchor und Kinderchor in einfühlsamer Weise entfalten. Die thematischen und motivischen Verknüpfungen dieser Oper werden so facettenreich erfasst und beleuchtet. Dies gilt auch für die symmetrische dramatische Struktur dieses Werkes. Dem Arioso-Stil werden die Sänger in jedem Fall in vorzüglicher Weise gerecht.

Dies gilt sowohl für den strahlkräftigen Tenor David Junghoon Kim als Rodolfo als auch für die voluminöse und betont lyrische Sopranistin Vlada Borovko als Mimi, die den gesanglichen Geheimnissen ihrer Partie mit klanglicher Intelligenz und Einfühlungsvermögen auf die Spur kommt. Da kommt es zu berührenden Passagen und Szenen, die man nicht vergisst. Die stimmungsmäßigen Momente des öffentlichen Sterbens werden im letzten Akt aber auch von Josefin Feiler als Musetta hochvirtuos und ergreifend zugleich eingefangen. Die unvergleichliche Fülle kleiner Themen und Motive durchdringen sich bei dieser Wiedergabe gegenseitig, denn Thomas Guggeis gelingt es als Dirigent, auch die charakteristische Vielfalt der Melodik in bewegender Weise herauszustellen. Die Rhythmik lässt sich tatsächlich nicht in starre Metren zwängen. Von fortwährender dynamischer Ausdruckssteigerung geprägt ist deswegen ebenso die Liebesszene zwischen Mimi und Rodolfo. Hier fehlt auch der leidenschaftliche Verismo nicht. Und auch den atemlosen Rausch des Musette-Walzers erfasst Thomas Guggeis im zweiten Bild hervorragend. Berührende Stimmungsbilder fesseln die Ohren musikalisch im dritten Bild.

Herz und Natur gehören dabei zusammen und leben in der pulsierenden Rhyhmik und Harmonik weiter. Rodolfos Arie „Wie eiskalt ist dies Händchen“ verbindet sich mit den fesselnden Erinnerungsmotiven im letzten Bild in ergreifender Weise. Das Mantellied von Colline (prägnant: Adam Palka) prägt sich tief ein. Als Marcello agiert souverän und nuancenreich Johannes Kammler.

In weiteren Rollen fesseln bei dieser guten Vorstellung Matthew Anchel als Benoit, Metodi Morartzaliev als Parpignol, Siegfried Laukner als Alcindoro, Heiko Schulz als Sergeant, Tommaso Hahn-Fuger als Zöllner und Juan Pablo Marin als Pflaumenverkäufer.

So wird bei Andrea Moses‘ Version vom Turiner Uraufführungsjahr 1896 aus ein riesiger Bogen bis in unsere Gegenwart geschlagen. Die Verletzlichkeit und Sensibilität dieser Menschen drückt sich darstellerisch und musikalisch eindrucksvoll aus, selbst wenn die betont moderne Aura manchen lyrischen Feinsinn überdeckt.

 
Tosender Schlussbeifall.
 
Alexander Walther

 

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