Premiere „Juditha triumphans“ von Antonio Vivaldi am 16.1.2022 in der Staatsoper/STUTTGART
Holofernes stürzt vom Sockel
Juditha (Rachael Wilson) und der Staatsopernchor. Foto: Martin Sigmund
Silvia Costa (Regie und Bühne; Kostüme: Laura Dondoli) deutet die Geschichte des Oratoriums „Juditha triumphans“ von Antonio Vivaldi gleichsam neu und überträgt sie sehr behutsam in unsere Zeit. Und der erste Teil spielt tagsüber, der zweite in der Nacht. Der Feldherr Holofernes belagert im Auftrag des assyrischen Königs Nebukadnezar die jüdische Stadt Bethulien. Und die Bevölkerung steht dadurch vor der Wahl zwischen Kapitulation und Tod. Um Gnade für ihr Volk zu erlangen, begibt sich die Witwe Judith in Holofernes‘ Lager. Geblendet von ihrer Schönheit verliebt sich der Feldherr in sie und betrinkt sich aus diesem Grund bei einem Bankett zu Judiths Ehren besinnungslos. Judith ergreift nun die Gelegenheit und enthauptet ihn mit seinem eigenen Schwert. Der Kopf wird dann mit Hilfe der Magd Abra zurück nach Bethulien gebracht. Die Entdeckung des Leichnams durch Holofernes‘ Diener Vagaus schlägt die Assyrer in die Flucht. Bethulien ist endgültig befreit.
Aktuelle Herausforderungen und historische Bezüge will Silvia Costa in ihrer Inszenierung miteinander verbinden. Sie konzentriert sich in ihrer ganz in weißer und roter Farbe gehaltenen Deutung auf die Musik der Arien und auf das, was sich darin offenbart. Entscheidend ist, dass alle Figuren von Frauen gesungen und dargestellt werden. Denn Vivaldi war für ein Waisenhaus mit Musikschule tätig. Der Tagesablauf wird in einem militärischen Lager präzis beobachtet, wo ein Zelt im Mittelpunkt steht. Und im zweiten Teil konzentriert sich die Handlung auf eine Arena, in der die Frauen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie wenden hier ganz bewusst Gewalt an. Gleichzeitig wird der Vorgang der Enthauptung mit dem der Geburt und Entbindung verknüpft. Judith und Holofernes lösen sich dabei als zwei Individuen ganz bewusst von der Gesellschaft. Judiths Schweigen öffnet gleichzeitig die Stimme von Abra, die den Sieg verkündet und jene von Vagaus, der Wut verspürt. Die Zuschauer werden bei dieser Inszenierung ganz bewusst mit persönlichen Fragen konfrontiert.
Im zweiten Teil sieht man die riesige Statue des Holofernes, der vom Sockel stürzt. Judith entfernt ihm einen Arm, der den Körper von Holofernes bedeckt. Schließlich ist der enthauptete Kopf des Holofernes vor dem Gesicht Judiths zu sehen, die sich dahinter versteckt. Manche Zusammenhänge hätte man noch präziser darstellen können, doch insgesamt beeindruckt diese Inszenierung durch ein plausibles Konzept. Im Hintergrund leuchtet ein jüdischer Stern.
Stine Marie Fischer (Holofernes) und der Staatsopernchor. Foto: Martin Sigmund
Unter der einfühlsamen und temporeichen Leitung von Benjamin Bayl musiziert das Staatsorchester Stuttgart hier sehr energiegeladen. So kommt die Reichhaltigkeit der instrumentalen Farben voll zum Vorschein. Schon der Einleitungschor der assyrischen Soldaten gewinnt aufgrund der präzisen Intonation der Damen des Staatsopernchors Stuttgart (Einstudierung: Bernhard Moncado) besonderes Gewicht. Der elftaktige Mittelteil in h-Moll löst sich im strahlenden D-Dur der Trompeten und Pauken gleichsam auf. Überwältigenden dynamischen Glanz besitzt dabei auch der Schlusschor „Salve invicta Juditha formosa“. In der Folge von Rezitativen und Arien ist das Oratorium übrigens gleich angelegt wie Vivaldis Opern. Diese opernhafte Emphase bringen auch die vorzüglichen Sängerinnen und Sänger zum Ausdruck – allen voran Rachael Wilson als Juditha und Stine Marie Fischer als Holofernes. Judithas Arien sind durchweg in der A-B-A-Form entwickelt. Die Solokonzertsatzform gewinnt dabei eine starke Bedeutung, das zeigt sich auch durch die charakteristische Behandlung der Ritornelle. Neben Quintfolgen erkennt man zudem ein Mollsubdominantverhältnis. Modulatorische Bindeglieder sind von größter Bedeutung – eine F-Dur-Arie setzt beispielsweise in C-Dur ein. In der Arie „Nil arma, nil bella, nil flamma furoris, si cor bellatoris est cadens in se“ zeigt Stine Marie Fischer sehr überzeugend die heroische Haltung durch Großintervalle im Ritornell. Diana Haller brilliert als Vagaus mit geradezu überwältigenden Koloraturen. In weiteren Rollen überzeugen ferner Gaia Petrone als Abra, Linsey Coppens als Ozias sowie Laura Corrales und Anna Matyuschenko mit intensiven Chorsoli. In einer Arie der Juditha „Quanto magis generosa“ ist eine solistische Viola d’amore eingesetzt. Die Viola ist in Scordatur notiert, die Arie steht in Es-Dur. Neben der Verwendung der Klarinetten fällt auch die virtuos-verzierte Gestaltung der Oboen besonders positiv auf. In einer Arie der Juditha wird übrigens auch noch die Mandoline solistisch herangezogen. Diese überaus bunte Klangfarbenpalette fächert der umsichtige Dirigent Benjamin Bayl mit dem Staatsorchester Stuttgart immer wieder vorsichtig, behutsam und wandlungsfähig auf. Die Tremolo-Passagen besitzen eine elektrisierende Wirkungskraft, das Pizzicato würzt zudem die rhythmischen Finessen. So bleibt alles in einem gleichmäßigen dynamischen Fluss, auch bei der da capo-Form der Arien. Stürmischer und begeisterter Schlussapplaus.
Alexander Walther