Premiere „Johannes-Passion“ von Johann Sebastian Bach am 2.4.2023 in der Staatsoper/STUTTGART
Magische Lichtobjekte
Chor. Foto: Matthias Baus
Diese Inszenierung von Ulrich Rasche beweist, dass man Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“ auch auf einer Opernbühne aufführen kann.
Vielschichtige Erzählstränge vermischen sich hier mit magischen Lichtobjekten. Obwohl das Werk für den liturgischen Rahmen vorgesehen ist, kommen die theatralischen Gedanken nicht zu kurz. Das zeigt sich auch an den Kostümen von Sara Schwartz und Romy Springsguth sowie der suggestiven Choreografie von Toni Jessen (Video: Florian Seufert). Angesichts von Jesu Leiden und Sterben offenbaren sich auch die Probleme einer Gemeinschaft, die die Schrecken immer wieder neu erlebt. Die permanente Bewegung des Bühnengrunds ermöglicht dabei eine subtile Choreografie in genau abgemessenen Schritten. Mit der Wirkung von magischem Licht kommt eine flüchtige Architektur in leuchtenden Vierecken zum Vorschein. Hier werden die Perspektiven des gemeinschaftlichen Tuns aufgezeigt.
Der Heiland ist bei diesem Werk in einer Sphäre des Geistes über den Menschen angesiedelt. Dies bringt Ulrich Rasche überzeugend zum Ausdruck. Die Christusgestalt hat bei Johannes auch viel weniger menschliche Züge. Der Ton des eifernden, seherischen Fanatismus verstummt nie, sondern gewinnt eine außerordentliche Intensität. Die dramatisch bewegten Bilder besitzen bei Ulrich Rasche mystischen Zauber, der den Zuschauer fesselt. Man sieht groß gestaltete Hände und Nebelstaub, der sich wie ein dunkler und geheimnisvoller Schleier über das Geschehen legt. Der umsichtige Dirigent Diego Fasolis gibt sogleich dem Anfangschor „Herr, unser Herrscher“ ein opernhaftes Gepräge. Zu schmerzlichen Lauten von Flöten und Oboen (die nach Schweitzers Deutung „herb und düster“ auf den bitteren Leidensweg weisen) treten feierlich ruhige Streicherfiguren als Tonsymbol der göttlichen Majestät hervor. Das Staatsorchester Stuttgart und der von Manuel Pujol prachtvoll einstudierte Staatsopernchor werden dabei von Bekennerleidenschaft beherrscht. Dies beweist außerdem die feierliche Sechzehntelbewegung der Streicher. Klagend erklingen Flöten und Oboen in fahlen Synkopen. Mit der Gefangennahme Jesu beginnt der Bericht des Evangelisten.
Moritz Kallenberg (Evangelist). Foto: Matthias Baus
Neben fromm-betrachtenden Arien sind Choräle in einem schlichten und bewegenden Satz eingeflochten. Den Anblick des gefesselten Heilands malt die erste Arie aus, die die Altstimme von Alexandra Urquiola in berührender Weise gestaltet: „Von den Stricken meiner Sünden“. Und mit lieblicher Hast verkündet die leuchtkräftige Sopranstimme von Fanie Antonelou: „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten.“ Der Evangelist (eindrucksvoll gesungen von Moritz Kallenberg) schildert die Szene, als Petrus den Heiland verleugnet, als unter Schmerzen anschwellende Wehklage. Der Tenor Charles Sy knüpft an mit dem übergroßen Schmerz seiner Arie „Ach, mein Sinn“. Mit dem wunderbar berührend gestalteten Choral „Christus, der uns selig macht“ beginnt der zweite Teil, nachdem der erste Teil mit der Choralmelodie „Jesu Kreuz, Leiden und Pein“ einfühlsam abgeschlossen hat. Shigeo Ishino ist ein großartiger Jesus, dessen Antwort an Pilatus „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ in überirdischer Weihe und Ruhe ertönt. Der fanatisierte Ausruf der Menge „Nicht diesen, sondern Barrabam“ offenbart dann die dramatische Präsenz des hervorragenden Staatsopernchors. Zum umflorten Klang der beiden Violinen d’amore beschwört der voluminöse Bass in seinem Arioso „Betrachte, meine Seel'“ die Vision, wie die „Himmelsschlüsselblume blüht“. Der Bassist Michael Nagl kann hier einmal mehr überzeugen. Die Arie des Tenors bei „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken“ bildet hier einen wirkungsvollen Kontrast. Im Bühnenbild sieht man dann tatsächlich einen gebeugten Rücken, der sich den harmonischen Klangfarben anpasst. Der Staatsopernchor schleudert den Ausruf „Kreuzige!“ ultimativ heraus. In den Dialog zwischen Jesus und Pilatus (facettenreich: Andreas Wolf) ist ein bewegender Choral („Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“) eingeflochten, den Diego Fasolis mit dem Ensemble eindringlich herausarbeitet. Die Altarie „Es ist vollbracht“ beschreibt den Todesseufzer des Heilands – und auf der Bühne scheint es wirklich finster zu werden. Schließlich wird eine unheimliche, riesige Staubwolke sichtbar. Das ist wirklich die Apokalypse. Ein großartiger dramatischer Moment ist auch das Erdbeben mit seinem unheimlichen Streicher-Tremolo, und die Sopran-Arie „Zerfließe, mein Herze“ berührt die Zuhörer aufgrund ihrer gesanglichen Intensität.
In weiteren Rollen überzeugen Johannes Kammler (Jesu Gefolgschaft, Bariton), Kyriaki Sirlantzi (Magd, Jesu Ankläger, Sopran), Linsey Coppens (Jesu Ankläger, Alt), Maximilian Vogler (Diener, Jesu Ankläger, Tenor) sowie Andrew Bogard (Jesu Ankläger, Bass). Zum Abschluss steigert sich der Staatsopernchor bei „Ach Herr, lass dein lieb‘ Engelein“ nochmals in grandioser Weise. Dass dieser Schlusschor ein Grablegungschor ist, macht Diego Fasolis als Dirigent mit dem Staatsorchester deutlich. Man sieht die Grablegung dann auch auf der offenen Bühne. Insbesondere der farbig gehaltene Mittelteil sticht hervor – und die fünfteilige Form des Chores entfaltet sich in klanglicher Intensität. Es ist eine Inszenierung, die auch die emotionale Kraft von Pasolinis Passions-Film thematisiert.
Begeisterter Schlussapplaus.
Alexander Walther