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STUTTGART/ Staatsoper: IPHIGENIE EN TAURIDE

Mord in der Proszeniumsloge

11.05.2019 | Oper

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Zweigeteilte Iphigenie: Amanda Majeski (Sängerin links) und Renate Jett (Schauspielerin rechts). Foto: Martin Sigmund

Stuttgart

„IPHIGENIE EN TAURIDE“ 10.5. 2019 (Premiere 28.4.) – Mord in der Proszeniumsloge

Die letzte Stuttgarter Begegnung mit Glucks 1779 in Paris uraufgeführter Tragédie lyrique liegt 35 Jahre zurück. Die damalige Inszenierung in Personalunion von Achim Freyer entworfen wurde noch in deutscher Sprache einstudiert. Heute, wo Originalsprachen unerlässlich sind, ist Glucks Werk in französisch mit dem Libretto von Nicolas-Francois Guillard nach der gleichnamigen Tragödie von Claude Guimond de La Touche selbstverständlich. Zumal die jetzt gezeigte Inszenierung an der Opéra National de Paris ihre Premiere hatte. Und zwar bereits im Jahr 2006, als der jetzige Stuttgarter Operndirektor Viktor Schoner und der Dramaturg Miron Hakenbeck diese erste Regiearbeit von  Krzysztof Warlikowski außerhalb seiner Heimat Polen künstlerisch betreut hatten. Durch diese Verbindung kam es jetzt zu einer zeitlich weit auseinander liegenden Neueinstudierung dieser Produktion, die bald nach ihrer Premiere zum Kult wurde.

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Statisterie und gespiegeltes Publikum. Foto: Martin Sigmund

Nun galt es zu überprüfen, ob sich dieser besondere Ruf  auch 13 Jahre später mit einem anderen musikalischen Ensemble als gerechtfertigt erweist. Sagen wir es mal so: die Gesamtwirkung des szenischen Konzeptes, vor allem der Personenregie steigert sich mit dem zunehmend lebendig dramatischen Geschehen zu unzweifelhaft überwältigender Faszination, was allerdings zu mindestens gleichem Anteil auf das Konto der musikalischen Wiedergabe geht. Hinsichtlich der Schlüssigkeit des szenischen Rahmens (Bühne und Kostüme: Malgorzata Szczesniak) verhindern jedoch zu viele Fragezeichen das Ereignis einer unmittelbar überwältigenden Vorstellung, wie es von einem Projekt mit Kultcharakter erwartet werden darf. Die Zeitlosigkeit des antiken Stoffes wird durch eine heutige Ebene bemüht, auf der acht alt gewordene  Frauen sich auf ihr Leben zurück besinnen und ihre Erfahrungen in den wesentlichen Themen von Glucks Oper wie Auswirkungen des Krieges auf die Familie, dem Umgang mit Verlusten und Abschieden, und dem Verhältnis von Erinnern und Vergessen bzw. Verschweigen widergespiegelt finden. Das Einheitsbühnenbild zeigt einen von dunkelgrünen Kacheln und Rollgittern eingefassten Raum mit Betten und Sesseln sowie seitlich angebrachten Waschbecken. Hier schreiten die zu Altersheim-Bewohnern gewordenen Damen zuerst in Nachtgewändern und Hauskleidern, später in elegantem Schwarz ihre Bahnen von hinten nach vorne und wieder zurück, lesen oder hängen ihren Gedanken nach oder legen sich schlafen. Während der Trauerfeier für den angeblich toten Orest sitzen sie vorne nebeneinander und essen Torte. Diese Statistinnen zwischen 76 und 96 Jahren ersetzen die Priesterinnen des Originals. Darunter ist auch Iphigenie im blassgold glitzernden Kostüm, zuerst die Sängerin, ab dem zweiten Akt die Schauspielerin Renate Jett, die von den Erinnerungen gebeutelt wird und dies emotional bewegend zum Ausdruck bringt, während die Sängerin dann im kurzen roten Kleid, später auch in Schwarz erscheint. Die inzwischen international arrivierte  Amanda Majeski zeichnet mit zunehmend an Farben und Nuancen gewinnendem Vortrag und von Anfang an stabilem, gleichmäßig geführtem und in den Höhen ohne Härten auskommendem Sopran ein vor allem im zweiten Teil fesselndes Portrait der aus ihrem Opfertod ins Exil nach Tauris geretteten Tochter Agamemnons. Die einstigen Familienmitglieder werden als Statisten im Bühnenhintergrund für eine Szene wieder lebendig. Orchestral getragener Rezitativ-Gesang und vorwärts drängende Arie weiß sie zu einer Einheit zu binden, den oft raschen Wechsel aus Verzweiflung und Hoffen hörbar zu machen. Intensiv ist auch ihr Zusammenspiel mit dem erst bei der Opferung erkannten Orest, der vom Muttermord gezeichnet mit blutigem Hemd und Stirnband sowie Sonnenbrille erscheint und von Jarrett Ott mit dynamisch reichhaltigem Bariton zwischen ganz zarter Intonation und konzentrierter Fülle sowie eindringlicher Körpersprache portraitiert wird. Wie sich der groß gewachsene Amerikaner innerhalb kurzer Zeit die unterschiedlichsten Rollen als Gesamtpaket vollkommen überzeugend erarbeitet hat, ist aller Bewunderung wert. Die Interaktion mit seinem Freund Pylades wird hier noch durch eine angedeutete Liebesbeziehung erweitert. Elmar Gilbertsson verfügt zwar nicht über eine so charismatische Bühnenpräsenz und einen so auffallend hoch qualifizierten, aber mit den Anforderungen doch geschickt zurecht kommenden Tenor von etwas monochromer Stimmfarbe. Mit der Ermordung des griechenfeindlichen Königs Thoas in der rechten Proszeniumsloge hat er noch einen überraschenden, starken Schlussauftritt. Einen solchen hatte Gezim Mysketa bereits mit seinem ersten echauffierten Auftreten im Rollstuhl, während er in der erwähnten Tötungsszene dann ohne diesen in einer Uniform daherkommt. Die Logik? Abgesehen davon blieb der Albanier mit seinem leicht spröden, knackig volumenreichen Bariton dem aus Angst und Schrecken zum Toben und Wüten neigenden König nichts schuldig.

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Opferszene: Amanda Majeski (Iphigenie) und Jarrett Ott (Orest). Foto: Martin Sigmund

Die Verbannung der als Deus ex machina zuletzt auf jegliche weitere Opferungshandlungen verzichtenden Göttin Diana in den Orchestergraben (Carina Schmieger mit reinem Sopran) ist angesichts des fehlenden mystischen Elements dieser Inszenierung ebenso nachvollziehbar wie dieselbe Platzierung des Staatsopernchores  (Einstudierung: Bernhard Moncado). Ihr Einsatz wurde dadurch als Überbau eines aus der Ferne tönenden Kommentars begreiflich, hatte aber den unüberhörbaren Nachteil, dass der volle Klang ebenso wie die kleinen Akzente verloren gingen. Schade!

Einen wesentlichen Anteil an der soghaften Entfaltung der Einstudierung hatte das Staatsorchester Stuttgart unter der gleichfalls antreibenden wie sensibel agierenden Leitung von Stefano Montanari. Glucks in ihrer Verschweißung von Musik und Text so modern anmutende Musik wurde mit einer Frische musiziert, als gelte es hier ein ganz neues Terrain zu entdecken. Der Dirigent sorgte für ein beständiges Mitatmen mit an- und ausschwingenden Phrasen, reduzierte und verfeinerte, um im nächsten Moment mit geschärften Streichern und Bläsern die Spannung um so mehr an zu ziehen – kurz  er vereinte Schlagkraft und Empfindsamkeit auf ideale Weise.

Alles in allem hinterließ diese Aufführung trotz fragwürdiger Details und eines inzwischen abgenützten Zeigefinger-Verweises (als Zwischenvorhang dient ein Spiegel, in dem sich die Zuschauer sehen können) einen vor allem nach der Pause packenden Eindruck, der sich in geballter Begeisterung im mal wieder erfreulich gut gefüllten Haus niederschlug.

Udo Klebes

 

 

 

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