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STUTTGART/Staatsoper: IPHIGÉNIE EN TAURIDE. Wiederaufnahme

Alt-Griechenland im Altenheim

05.02.2020 | Oper

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Copyright: Martin Sigmund

Wiederaufnahme von Christoph Willibald Glucks Glucks „Iphigenie en Tauride“ am 4. Februar 2020 in der Staatsoper/STUTTGART

Alt-Griechenland im Altenheim

 Schiller sprach in einem Brief an Goethe „von der heiligen Musik dieses weihevollen Werkes“. In der Inszenierung von Krzysztof Warlikowski erreicht Christoph Willibald Glucks „Iphigenie en Tauride“ eine ungewöhnliche Intensität. Gleichzeitig bleibt die dämonische Größe des von E.T.A. Hoffmann beschworenen „Ritter Gluck“ immer spürbar. Das Reinmenschliche prägt die Rahmenhandlung in Glucks Opern. Damit wird das Intrigenspiel mit festen Regeln verdrängt. Eine endlose Serie von Morden unter Verwandten kennzeichnet diese erfolgreiche Oper. Diese Tatsache wird vor allem in den suggestiv-alptraumhaften Video-Sequenzen von Denis Guegin sichtbar. Iphigenie, die durch einen göttlichen Eingriff der Opferung durch ihren Vater entkommen ist, ist im Exil Tauris für die Menschenopfer zuständig. Als sie ihren tot geglaubten Bruder opfern soll, weigert sie sich standhaft. Warlikowski zeigt hier eine gealterte und vereinsamte Heldin des 20. Jahrhunderts. Dabei verdichtet sich aber auch das dramaturgische Konzept.

In Warlikowskis Inszenierung hat Iphigenie ihr Exil Tauris nämlich schon vor Jahrzehnten verlassen. Zugleich hat sie diesem Ort nie ganz den Rücken kehren können, obwohl er traumatische Erfahrungen birgt. Am Ende ihres Lebens kehren diese Ereignisse alptraumhaft in die Erinnerung zurück. Gerade diesen Aspekt arbeitet die Inszenierung facettenreich heraus. Zugleich spielt die Szenerie in einem Altenheim. Die Zeitabläufe werden so deutlich verschoben. Hier besticht auch die einfallsreiche Choreographie von Claude Bardouil, denn die Seniorinnen überraschen das Publikum teilweise mit ausgefeilten tänzerischen Einlagen. Iphigenies Eltern, ihr Bruder Orest und sein Freund Pylades, Tauris‘ Herrscher Thoas – sie geistern gespenstisch durch ihre einsamen Nächte. Die großräumige Inszenierung mit Bühne und Kostümen von Malgorzata Szczesniak zeichnet ein verwirrendes Bild von Vergangenheit und Gegenwart. Die Göttin Diana verhindert zuletzt ein Massaker der Griechen an Thoas‘ Volk – damit erlangt Orest Entsühnung von seinem Muttermord. Er soll mit der Schwester nach Mykene zurückreisen. Dann werden Frieden und Menschlichkeit gepriesen und gefeiert.

Das Staatsorchester Stuttgart musiziert dieses Meisterwerk von Christoph Willibald Gluck unter der Leitung von Christopher Moulds voller Emotionen und chromatischem Schliff. Das zeigt sich schon in der anfänglichen Sturmszene und setzt sich dann konsequent fort. Die wahrhaft antike Größe des Werkes strahlt so hell hervor. Die Stimmen von Iphigenie und den Priesterinnen wirken seltsam sphärenhaft. Der Barbar Thoas ragt in der fulminanten Gestaltung von Michael Mayes deutlich und markant heraus. Im zweiten Akt triumphiert dann die gewaltige Gestalt des Muttermörders Orestes, den Johannes Kammler mit vielen Klangfarben singt. Beim Andante „Der Frieden kehret in mein Herz“ fallen die Begleitfiguren des Orchesters deutlich auf. Gewaltige Steigerungen werden im dritten Akt für das „Hohelied der Freundschaft“ aufgeboten.

Dieses Werk war zu Recht Glucks größter Erfolg auf der Opernbühne. Es wurde im Jahre 1779 in Paris uraufgeführt. Und in den Ballett- und Schreitszenen mit den Seniorinnen werden auch gewisse satirische Akzente gesetzt. Die leidenschaftlich akzentuierte homophone Melodik und die deutlich ausgeprägte motivische Arbeit stechen bei dieser Interpretation klar hervor. Der von Bernhard Moncado subtil einstudierte Staatsopernchor Stuttgart entfaltet volle polyphone Wirkungskraft. Als Iphigenie überzeugt vor allem Joyce El-Khoury, die ihrer Rolle eine aufwühlende Intensität verleiht. Das dramatische Arioso triumphiert. Die Traurigkeit und Verlassenheit der Rolle kommt bei der einfühlsamen Wiedergabe der libanesisch-kanadischen Sopranistin Joyce El-Khoury durchaus ergreifend zum Ausdruck. Ihre Kantilenen besitzen eine tragfähige und imposante gesangliche Linienführung. Gluck erhebt das Recitativo secco zum accompagnato, verbindet es motivisch mit der Arie. Diese strukturellen Prozesse werden bei dieser konzentrierten Interpretation immer wieder in präziser Weise deutlich. Die schlichte und liedhafte Melodik voll tragischer Spannung machen auch die anderen Sängerinnen und Sänger bei dieser Produktion deutlich. Dazu gehören ferner Mingjie Lei als Pylade, Carina Schmieger als Diane, Griechin, Priesterin und Elliott Carlton Hines als Skythe. In weiteren Rollen gefallen Renate Jett als Schauspielerin in der Rolle der Iphigenie sowie die Bewohnerinnen des Altenheimes Claudette Walker (Tanz), Ute Arnold, Anne von Kesteren, Jutta Müller, Herma Perkams, Hanne Rosenheimer, Ilse Rucki und Annelore Schuck.

In dieser Produktion der Opera national de Paris gewinnen außerdem die Familie mit Dorothea Baltzer (Klytämnestra), Thilo Schulz (Der junge Orest), Florian Enssle (Agamemnon), Xenia Leonhard (Elektra), Lea Etgeton (Chrysothemis), Balthasar Burger (Achill) sowie die Wachen mit Rakim Balici, Andrea Köroglu, Johannes Schropp und die Pflegerinnen Deborah Yates und Nina Wilfert klare Konturen. Glucks musikalische Schilderungskunst kommt immer wieder leuchtkräftig zum Vorschein. Das bewegende und leidenschaftliche Feuer der einzelnen Szenen ist nicht mehr zu löschen. Dass Gluck Paris zu seinem Haupttätigkeitsfeld machen konnte, verdankte er übrigens seiner Wiener Schülerin Marie Antoinette. Die galant-graziöse Welt des französischen Hofes hat so in seinen Werken Einzug gehalten. Rameau lässt grüßen. Die Thematik der Vorahnungen und Visionen, die die Figuren bei diesem Werk heimsuchen, könnte man sogar noch deutlicher herausarbeiten (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Rebecca Bienek). So bleiben manche Szenen seltsam kalt und leblos. Insgesamt jedoch kann man diese Inszenierung aufgrund ihrer gelungenen Personenführung und der in sich schlüssigen dramaturgischen Konzeption durchaus empfehlen. Für das gesamte Team und vor allem für die rüstigen Seniorinnen gab es zuletzt wahre Begeisterungsstürme.  

Alexander Walther

 

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