Staatsoper Stuttgart
„HÄNSEL UND GRETEL“ 6.2.2022 (Premiere) – märchenhaft ins Heute geholt
Ida Ränzlöv (Hänsel) und Catriona Smith (Mutter). Foto: Matthias Baus
Der Wald, der da während des Orchestervorspiels über die Vorhang-Leinwand in Form eines filmischen Panoramas mit tierischen Erscheinungen sichtbar wird, ist nur anfangs ein Symbol intakter Natur. Zusehends züngeln Flammen und hinterlassen einen Kahlschlag (Video: Philipp Contag-Lada). Solch einen Einstieg, der das musikalische Weben Engelbert Humperdincks atmosphärisch aufgreift, darf als Bebilderung akzeptiert werden, wenn die Regie eine rein akustische Einstimmung für heutige Besucher als zu langweilig erachtet. Dem nun zum zweiten Mal hier als Regisseur aktiven Axel Ranisch mag es gegönnt sein, erweist er sich wie bereits bei seiner zuletzt in Szene gesetzten „Die Liebe zu drei Orangen“ als einer der raren Spezies von Inszenatoren, die ihrer Arbeit mit einer spürbaren Lust und dem Vergnügen am Phantastischen nachkommen und hier nun das allzeit gültige Märchen der Gebrüder Grimm mit geschickter Balance zwischen Freud und Leid in die Gegenwart bwz. Zukunft holt, ohne es seiner märchenhaften Überhöhung zu entkleiden.
Josefin Feiler (Gretel), Rosie Aldridge (Hexe), Ida Ränzlöv (Hänsel und Statisterie. Foto: Matthias Baus
Die Bühne von Saskia Wunsch zeigt dann eine zentrale drehbare nach hinten ansteigende Scheibe mit Förderband-Vorrichtungen einer Fabrik und Treppen, die ins Innere des auf der Rückseite im 3.Akt sichtbar werdenden quietsch-lila/pinkfarbenen Hexenhauses namens Leckermaul führen. Auf der Vorderbühne ist das karge Zuhause der Besenbinder-Familie auf einer Waldlichtung unter einem aufgespannten Netz angesiedelt, dessen Bäume bedrohlich nackte Riesen sind, zwischen denen eine große Mondscheibe Romantik vortäuscht, aber eben auch eine gewisse märchenhafte Stimmung nicht ausschließt. Bereits da tauchen Gestalten in rot-orangefarbenen Kapuzen-Overalls auf, die einige von Hänsels und Gretels Kameraden ins Innere der Fabrik zerren und zum überleitenden Hexenritt vor dem Zwischenvorhang einen choreographischen Auftritt mit aufleuchtenden Zauberstäben haben, sich dann aber später als von der Hexe gefangen genommene Handlanger erweisen. Diese selbst ist eine aufgetakelte Lady in pinkfarbener Jacke mit großem Pelzkragen ( was später in überdimensionierter Hülle als Hänsels Käfig von oben herab gelassen wird) und aufgetürmter Frisur (Kostüme: Alfred Mayerhofer) , die bereits für einen Moment erscheint, wenn die Kinder „Ein Männlein steht im Walde“ anstimmen -welche eine Metapher, die Giftgefahr in Gestalt der verführenden Firmenchefin! Im dritten Akt schwebt sie dann auch auf einer Schaukel hoch über dem dunkel gehaltenen Hintergrund, wo sich die Machenschaften ihres Gewerkes in Form von Kränen auftun, an deren Haken die Gefangenen in die Verarbeitung zu Lebkuchen bzw. hier großen Drops transportiert werden, die dann in eine gläserne Säule fallen, in der zuletzt die Hexe selbst gefangen wird. Ende gut, wenn wie vorgesehen die Eltern ihre Kinder wieder finden, aber nicht alles gut, denn die szenischen Elemente weisen klar auf die die Zukunft belastenden Themen wie Wirtschaftsausbeutung und bedrohte Natur.
So herzhaft Ranisch mit Einbindung choreographischer Abläufe oder Bewegungsformen (Janine Grellscheid) auf der Bühne zulangt so kraftvoll und mit intensiven Farben leuchtet die musikalische Auslegung durch die Dirigentin Alevtina Ioffe aus St.Petersburg. Bei aller Üppigkeit, mit der das Staatsorchester Stuttgart Humperdincks Partitur offeriert, bleiben die Zwischentöne, die Betonung so mancher sonst unter gehender Nebenstimme (z.B. in den tiefen Streichern) hörbar, wurde da viel Fein- und Detailarbeit geleistet, die Balance zwischen den Sängern sowohl im liedhaften als auch im symphonisch großflächigen Bereich gewahrt.
Zumal bei den beiden Titelhelden musste keine spezielle Rücksicht auf evtl. kindlich zartere Stimmen genommen werden, denn sowohl Josefin Feiler, die hier eine schon recht frühreife Gretel mit Brille ist, als auch Ida Ränzlöv, ein großer schlaksiger Hänsel in Shorts und Basecap verfügen über gestandene, im vollen Saft stehende Stimmen mit guter Tragfähigkeit. Der mit fülligem Kern ins Zwischenfach weisende Sopran Feilers bringt für die Rolle eine ungewohnt starke vokale Präsenz und eine damit einhergehende Spiellust mit. Ränzlövs hell schattierter und mit viel Impetus eingesetzter Mezzosopran passt vorzüglich zum fast schon choreographische Züge aufweisenden Bewegungskanon Pubertierender. Dazu kommt eine ideale Harmonie der Stimmen im Zwiegesang des Abendsegens.
Das Elternpaar ist passend kontrastiert besetzt mit Shigeo Ishino als gutmütigem Vater mit immer beweglicher werdendem dunklem Bariton und Catriona Smiths harscher Mutter, deren vollreifer Sopran dabei auch legitim herbe Kanten hören läßt.
Die Hexe ist eine jener Rollen, in der eine Sängerin mit einem überschaubaren Einsatz von einer guten Viertelstunde regelrecht abräumen kann. Rosie Aldridge nutzt das Gebot der Stunde und des Hexenvokabulars und mischt ihren potenten Sopran mit knalligen Spitzen und brustig pastosen Untertönen zuzüglich einiger Beigaben hämisch schrillen Lachens gehörig auf.
Als Sandmännchen und Taumännchen in Weiß und transparentem Plastikmantel entfaltet Claudia Muschio mit ihrem strahlend leicht eingesetzten Sopran den übersinnlichen Zauber ihrer beiden Auftritte, während dessen die Mondscheibe erbleicht und sich in ein Gesicht verwandelt. Ein Kästchen mit Pilzen, den letzten Überlebensmeistern von Naturkatastrophen, steht als Signal in die Höhe gestreckt über dem nur bedingt bzw. begrenzt glücklich stimmenden Ende.
Finale mit dem Ensemble. Foto: Matthias Baus
Der Kinderchor der Staatsoper (Einstudierung: Bernhard Moncado), teilweise aus dem Off zu vernehmen, während Statisten die Bühne bevölkern, erfüllt seine finale Funktion mit sauberem Klangbild und innerer Anteilnahme.
Minimaler Protest gegen die Regie hatte beim Überschwang begeisterten Zuspruchs keine Chance, die Freude war groß über ein Ergebnis, das der häufig geltenden Devise, dass meist nichts Besseres nachkommt, eine seltene Ausnahme entgegen setzte und die vorhergehende Inszenierung von Johannes Schaaf ( Kirill Serebrennikovs Regie blieb vor wenigen Jahren aufgrund seiner Inhaftierung in einer halbszenischen Version stecken) zwar nicht aus der Erinnerung verdrängt, aber auch nicht vermissen lässt.
Udo Klebes