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STUTTGART/ Staatsoper: DIE WINTERREISE von Hans Zender – szenisch. Premiere

Grenzen lösen sich auf!

02.03.2020 | Oper


Matthias Klink. Foto: Matthias Baus

Premiere von Schuberts „Winterreise“ von Hans Zender am 1.3.2020 in der Staatsoper/STUTTGART

GRENZEN LÖSEN SICH AUF

Der Schrecken soll bei Hans Zenders Neu-Komposition von Schuberts „Winterreise“ deutlich spürbar sein. Das Staatsorchester Stuttgart ist unter der emotionalen Leitung von Stefan Schreiber vorne auf der Bühne zu sehen. Grenzen lösen sich auf – und dies auch zwischen Bühne und Zuschauerraum. Der niederländische Videokünslter Aernout Mik zeichnet bei dieser interessanten Produktion für Konzept, Video, Raum und Regie verantwortlich. In 24 Liedern begleitet Franz Schubert seinen Wanderer nach einer zerschlagenen Liebeshoffnung aus der Stadt in die Winterlandschaft hinaus. Schubert erlebte in den Jahren nach 1815 durch die Restaurationspolitik Metternichs eine vernichtende Absage an seine Kunst und sein Dasein. Diese „Winterreise“ durchlebte er ganz persönlich.


Matthias Klink. Foto: Matthias Baus

Hans Zender ist es 1993 gelungen, bei seiner „komponierten Interpretation“ die Klavierbegleitung auf kleines Orchester und verfremdet-überzeichnete Klänge zu übertragen. Man spürt diese geheimnisvolle Überwachungssituation selbst in der Partitur. Aernout Mik hat dieses Werk zwischen Cluster-, Pizzicati-, Staccati- und Glissandi-Sequenzen um die Eigendynamik virtueller Welten bereichert. So ist beispielsweise das Innere des Körpers zu sehen, aber man erkennt auch Stadtporträts von New York, Karnevalsumzüge oder Massendemonstrationen. Für Mik ist die Verlorenheit und Auflösung des Körpers zwischen virtueller und realer Welt die „Winterreise“ des heutigen Menschen. Die szenischen Übergänge sind nicht immer fließend, doch der innere Zusammenhang geht nicht verloren. Gelegentlich ergeben sich sogar Anklänge an die Musik Gustav Mahlers zwischen Schnee und Hundegebell. Die Bewegungen der 25 Musikerinnen und Musiker sind in der Partitur von Zender genau vorgegeben, der Klangkörper dehnt sich gleichsam aus. Dies ist die besondere Qualität dieser Musik. Selbst das Saxofon wird in den melodischen Prozess in wunderbarer Weise eingebunden. Und das Träumerisch-Phantastische steht weiter im Mittelpunkt. Selbst der Klangzauber der von Dominantspannungen beherrschten Klassik wird spürbar. In seinem Streben nach Selbstoptimierung gibt der ausgezeichnete Tenor Matthias Klink an diesem besonderen Abend seine gesamte Persönlichkeit und seinen Körper preis. Bei ihm gewinnen diese „schauerlichen Lieder“ wirklich eine ganz neue Dimension. Außerdem erkennt man auch bei diesem Werk Vorbilder wie Bartok, Bernd Alois Zimmermann, Boulez und Webern. Durch eine strukturell neuartig verzahnte Übernahme gesungener und gesprochener Partien tun sich bei einzelnen Nummern wie „Erfrorne Tränen“, „Der Lindenbaum“, „Auf dem Flusse“ oder „Der stürmische Morgen “ und „Täuschung“ ganz neue Klangwelten auf, die Matthias Klink mit viel Klangfarbenreichtum und stimmlichem Einfühlungsvermögen heraufbeschwört. Die Schönheit der Melodie und das Geheimnis der Harmonie werden bei Zenders Bearbeitung nicht geleugnet. Vielmehr erreichen sie durch polyphone und klangliche Verfeinerungen eine neuartige Qualität, die der Dirigent Stefan Schreiber mit dem sehr gut musizierenden Staatsorchester Stuttgart auch überzeugend herausarbeitet. So gewinnt außerden „Das Wirtshaus“ eine erstaunliche klangliche Qualität. Am meisten überzeugt hier „Der Leiermann“, dessen dynamische Kraft und grandiose Intervallspannungen sich am Ende in geheimnisvoller Weise ausweiten. Da gelingt es Matthias Klink, in die letzten Geheimnisse dieser Musik vorzudringen. Live-Kamera und Bildgestaltung von Tobias Dusche und Daniel Keller unterstreichen das visuell vielfältige Geschehen in bemerkenswerter Weise (Mitarbeit Regie/Video: Marjolaine Boonstra; Mitarbeit Kostüm/Bühne: Elsje de Bruijn). Diese Reise auf der psychischen Ebene hat Hans Zender bei seiner Bearbeitung in subtiler Weise weiter verfeinert. Hier spürt Stefan Schreiber zusammen mit dem suggestiv musizierenden Staatsorchester Stuttgart der seltsamen Klangwelt nach. Es ist ein geheimnisvoller Fortschritt der Erkenntnis. Stilistische und formale Prozesse werden dabei konsequent weiterentwickelt. Extreme Kontraste und Zeitströme sowie statische Klangkomplexe gehen eine seltsame Verbindung ein, die der exzellente Tenor Matthias Klink immer wieder bravourös durchbricht und durchdringt. Und dies vor allem dann, wenn er auch im Liegen singt. Dabei gelingen ihm die Kantilenen sogar besonders schön. Thematischer Reichtum sowie lyrische Weite und Tiefe hinterlassen beim Zuhörer einen aufwühlenden Eindruck.

Am Ende gab es begeisterten Schlussapplaus für diese sehens- und hörenswerte Produktion im Rahmen des Frühjahrsfestivals 2020, aber auch ärgerliche „Buh“-Rufe (Dramaturgie: Barbara Eckle, Julia Schmitt). Der Abend war in jedem Fall ein Erlebnis. 

Alexander Walther

 

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