Staatsoper Stuttgart
„DIE WALKÜRE“ 10.4. 2022 (Premiere) – Steigerung von Akt zu Akt
Simone Schneider (Sieglinde) und Michael König (Siegmund) im 1.Akt. Foto: Martin Sigmund
In Stuttgart wurde Ende der 1990er Jahre vom damaligen Intendanten Klaus Zehelein anlässlich der letzten Neuinszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ am Haus die Idee geboren, die vier Teile des Zyklus an verschiedene Regisseure zu vergeben. Bei der jetzigen neuen Auseinandersetzung mit dem gewaltigen Bühnenwerk wurde diese inzwischen Schule gemacht habende Aufteilung noch ein Stück weiter getrieben und die drei Akte des ersten Tages unterschiedlichen Inszenatoren überlassen. Kann dies im Sinne eines Gesamtkunstwerks sein oder lässt Wagners weltumfassende Tetralogie generell auch innerhalb eines Abends mehrere Handschriften und Herangehensweisen zu?
Die Bemerkung eines Besuchers, dass so immerhin die größere Wahrscheinlichkeit eines glückenden Aktes bestehe, erwies sich denn als nicht ganz unzutreffend. So wäre eine komplette Vergabe an die holländische Künstlergruppe Hotel Modern wohl ein ziemlicher Totalausfall geworden. Dass ausgerechnet der erste Akt mit seiner vorgezeichnet überwältigenden emotionalen Wirkung in ihren Händen lag, bescherte ein an Passivität und Leblosigkeit kaum mehr zu überbietendes Bühnengeschehen. Statt sich um die eigentliche Handlung zu kümmern, inszenierte das für seine Miniaturtechnik bekannte Team eine filmische Dauereinblendung von zerstörten Städten und Naturkatastrophen anheim gefallener Natur, die sie in Miniaturgröße auf Brettern gestaltet haben und live mit der Kamera aufnehmen, so dass sie auf einer rückwärtigen Leinwand in Bühnenmitte groß zu sehen sind. Für sich betrachtet hat das seine künstlerische Berechtigung. Doch während das Team diese Miniatur-Arrangements immer wieder an andere Stellen auf der Bühne platziert, also aktiv zu Gange ist, überläßt es die eigentlichen Protagonisten meist passiv frontal Richtung Publikum gewandt (akustisch natürlich ideal) sich selbst. Nur phasenweise signalisiert die Mimik ihre inhaltliche Beteiligung. Da hatte selbst die eine Woche vor dieser Premiere stattgefundene konzertante Aufführung von „Don Giovanni“ mehr Leben und szenischen Bezug. Hotel Modern interessiert sich hauptsächlich für seine eigene Kunst anstatt für das umzusetzende Stück. Warum zum Vorspiel groß im Bild eine Plüschratte mit Knopfaugen sich auf Schienen vorwärts bewegt und die Zwillingsgeschwister anfangs Rattenköpfe aufhaben, bleibt als Fragen offen im Raum stehen. Erst gegen Ende besinnen sich die Filmenden des Zwillingspaares, indem sie Sieglinde und Siegmund ein Seil in die Hand drücken, an dem sie gemeinsam ziehen, um das von oben herab fahrende Schwert Nothung zu gewinnen. Die musikalische Seite vermochte da kaum noch etwas zu retten. Doch dazu später.
Auch die beiden anderen Akt-Gestalter kommen von der Bildenden Kunst, nähern sich dem Stück aber doch mit stimmungsgemäßer Einfühlsamkeit und szenischer Atmosphäre. Urs Schönebaum, aus dem Umfeld von Robert Wilson kommend, hüllt die Bühne zunächst in einen sich im Licht ständig verändernden wallenden Nebel, ehe stelenartige Bäume eine Waldszene andeuten, aus dee Brünnhilde lanzenbewehrt und flankiert von Fackeln tragenden Kapuzenmännern zur Todesverkündigung erscheint. Die Personenregie ist auf das Wesentliche konzentriert, folgt indes nicht der Wilson’schen Geometrie, sondern einer befreiteren Statik. Am Ende dieses klar verständlich ablaufenden Aktes setzt Schönebaum noch ein großes Fragezeichen: warum tötet Wotan Siegmund selbst und sticht wie ein Berserker viel zu lang und begleitet von stöhnenden Lauten auf ihn ein?
Im dritten Akt wird es dann richtig bunt. Ulla von Brandenburgs Walkürenreich im Gebirge ist ein poppiger Farbenrausch mit welligen Rampen, die sich auf- und ab bewegend, immer neue Hügel suggerieren. In wechselnden Stellungen positionieren sich die in lange Kleider mit bunten Farbstreifen gehüllten Schwestern Brünnhildes und schwingen ihre Lanzen. Als surrealistische Verfremdung ergibt das ein durchaus phantasievolles Bild, das sich mit Wagners rauschenden Orchesterfarben, zumal der Blechbläser gesättigten Wucht des Walkürenrittes, deckt. Von Brandenburg macht auch spürbar, wie sie der musikalisch emotionale Gehalt zu einer szenischen Auseinandersetzung der Personen inspiriert hat und ermöglicht so eine entsprechend tief berührende Abschiedsszene Wotans von seiner Lieblingstochter. Brünnhilde legt sich auf eine der Rampen, während im Hintergrund ein Double im Raum schwebt und von einem Lichtkreis umfangen wird. Ein zwar etwas simpler, aber symbolisch durchaus stimmiger Feuerzauber.
Esther Dierkes (Gerhilde), Clare Tunney (Helmwige), Leia Lensing (Waltraute), Stine Marie Fischer (Schwertleite), Catriona Smith (Ortlinde), Linsey Coppens (Siegrune), Anna Werle (Roßweiße) und Maria Theresa Ullrich (Grimgerde) sind ein ausgelassenes, in der Mischung der Stimmfarben gut harmonierendes Oktett ohne nennenswerte Höhen-Schärfen.
Vokal gesehen zeigten sich die Damen den Herren etwas überlegen. Es mag vielleicht verwundern, wenn Fricka vorderhand gewürdigt wird. Aber wie Annika Schlicht mit starker Bühnenpräsenz in langer Glitzerrobe ihren Gemahl mit tiefensattem, bis in die Spitzen durchschlagskräftig klarem und bis ins Detail ausdrucksgeschärftem Mezzosopran des Eheverrats bezichtigt, machte aus dieser Szene einen Höhepunkt. Diese Leistung prägte sich bis zum noch lange anstehenden Schluss entsprechend ein und belohnte die Sängerin mit der größten Solo-Ovation Dicht gefolgt von Simone Schneider, die die Sieglinde in allen lyrischen und dramatischen Belangen organisch fließend, mit üppigen unteren Lagen und strahlend durchgeformten Ausbrüchen erfasst. Dass selbst sie aus der Null-Regie des ersten Aktes nichts für die normalerweise aufwühlende Wiedererkennungsszene schöpfend retten konnte, zeigt wie sehr dieser dankbar starke Abschnitt gegen die Wand gefahren wurde.
Okka von der Damerau (Brünnhilde) im 2.Akt. Foto: Martin Sigmund
Okka von der Damerau mit langem Blondhaar bestand ihr Debut als Brünnhilde mit überwiegend rollengerechtem Format. Nur gelegentlich störten Intonationstrübungen den mühelos wirkenden Einsatz ihrer inzwischen ganz zum Sopran gewandelten Stimme, so hell und in leiseren Momenten fast mädchenhaft leicht machte sie die ja noch junge Frau glaubhaft. Auch in den großen Forte-Entladungen ist hier eine noch ganz frische (hoch-)dramatische Sängerin mit hilfreich deutlicher Mezzo-Vergangenheit zu erleben, die in den Spitzen noch keine gern mit Wagner assoziierten stählernen Härten aufweist.
Brian Mulligan, der ebenfalls (und am Haus) debutierende Wotan, kann es vor allem hinsichtlich einer glaubhaft autoritären Körpersprache und dynamischem Interpretationsgeschick mit ihr aufnehmen und dadurch speziell im langen Monolog die Spannung aufrecht erhalten. Sein leicht fahler, auch fürs Charakterfach prädestinierte, in allen Lagen gut sitzender, eher hell timbrierter und am Premierenabend gegen Ende etwas ermüdender Bariton kann die große Partie fürs Erste gut und mit deutlichem Entwicklungs-Potenzial erfüllen.
Michael Königs Siegmund hätte am dringendsten einer formenden Regiehand bedurft. Allein gelassen wie hier im wesentlichen ersten Akt bleibt der auf Dauer etwas brave Vortrag eines gesunden Zwischenfachtenors mit leichten heldischen Anlagen, sauberer Phrasierung, klarer Tongebung und bis in die Höhen unverfärbtem Tenorglanz eine tiefere innere Anteilnahme schuldig.
Das Sextett der Solisten ergänzt Goran Juric in Karohose und rotbraun fellbesetztem Wams, der seinen ersten Hunding mit bislang nicht geahnter seriöser Basstiefe und unheilschwangeren Untertönen vollkommen überzeugend beglaubigt.
Walkürenritt im 3.Akt. Foto: Martin Sigmund
Für GMD Cornelius Meister, der ja in diesem Sommer die Bayreuther Festspiele mit „Tristan und Isolde“ eröffnen wird, ist die Erarbeitung des Ringes ein wichtiger Baustein für die Stärkung seiner Wagner-Kompetenz. Die Balance zu den Sängern ist insgesamt gut gewahrt und mit der Präsenz des Staatsorchesters Stuttgart meist ideal abgemischt. Seine Lesart ist eine eher schlanke, die auch auf die vielen leisen Momente genau eingeht, die bei diesem Komponisten ja weitaus mehr gefordert sind als es manchen Musikliebhabern bewusst ist. Mit zunehmender szenischer Stimmigkeit und lebendigerer Gestaltung steigerten sich die MusikerInnen zu gehaltvollerer Formung, wobei bereits im ersten Akt alles Wesentliche aus dem Graben vernehmbar war, das aber den Leerlauf auf der Bühne auch nicht auszugleichen vermochte. Bis auf ein kurz schwächelndes Horn gelang eine Wiedergabe von großer tonlicher Prägnanz und Dringlichkeit.
Zusammengefasst ist hier von einer Ring-Etappe die Rede, die die Akteure in Anbetracht des sehr gemischten Kostüm-Konglomerats auf eine Zeitreise durch verschiedene Epochen schickt, sie im Großen und Ganzen rollengerecht kleidet und auf Würdeloses und Hässliches verzichtet. Die Betrachtung erfolgt in allen Akten aus einem bildnerischen Blickwinkel, bei dem die Personenregie entweder mangels Beherrschung oder als nebensächlich erachteter Bedeutung keine oder eine untergeordnete Rolle spielt. Hotel Modern wurde zurecht mit vehementen Unmutsäußerungen bestraft, die beiden anderen Teams eher wertungsfrei gewürdigt. Nachvollziehbar abgestuften, ausgiebigen Jubel durfte das gesamte musikalische Personal einstecken.
Udo Klebes