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STUTTGART/ Staatsoper: DIE NACHTWANDLERIN von Vincenzo Bellini – geheimnisvolle Übergangszustände

09.02.2018 | Oper
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Mirella Bunoaica als Amina, Jesus Leon (Elvino). Copyright: Martin Sigmund
„Die Nachtwandlerin“ von Bellini als Wiederaufnahme in der Staatsoper Stuttgart
GEHEIMNISVOLLE ÜBERGANGSZUSTÄNDE
„Die Nachtwandlerin“ von Vincenzo Bellini am 8. Februar 2018 in der Staatsoper/STUTTGART
Die 1831 in Mailand uraufgeführte „Nachtwandlerin“ galt im 19. Jahrhundert als Bellinis erfolgreichste Oper. Die vor allem auf eine subtile Personenführung großen Wert legende Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock) zeigt zwar nicht die Schweizer Alpen, beleuchtet aber die seltsamen Ereignisse im weiträumigen Gasthof in den schillerndsten Farben. Dass sich der junge, reiche Grundbesitzer Elvino ausgerechnet in das Waisenkind Amina verliebt hat, wird hier schnell deutlich. Wie stark sich das junge Paar zwischen Melancholie und Aufbruchstimmung befindet, arbeitet das Regieteam ebenfalls nuancenreich und mit viel Spielwitz heraus. Die nächtlichen Besuche einer Untoten mit geheimnisvollen Übergangszuständen erreichen rasch ihren Siedepunkt, denn es ist natürlich Amina, die im abgetrennten Bühnenhintergrund als Nachtwandlerin sichtbar wird. Die Geschichte des Dorfes wird so mit der Handlung in eigenartiger Weise verknüpft. Als Rodolfo als fremder Gast im Gasthof der Wirtin absteigt, verirrt sich in der Nacht die traumwandelnde Amina in dessen Zimmer. Obwohl Rodolfo sofort den Raum verlässt, kommt es zu Eifersuchtsszenen zwischen Lisa und Amina. Lisa hat sich in Rodolfo verliebt. Selbst Aminas somnambule Veranlagung hält man hier für eine Erfindung. Als sie jedoch im Traumzustand nach Elvino ruft, zweifelt niemand mehr an ihrer Unschuld – und sie heiratet Elvino erneut, nachdem sie erwacht ist.
Jossi Wieler und Sergio Morabito haben für diese Handlungsebene eine eher realistische Sichtweise gefunden, die jedoch auch die heiteren und komödiantischen Elemente betont. So finden die einzelnen Handlungsstränge bei dieser abwechslungsreichen Inszenierung trotz des eher eintönigen Bühnenbildes immer wieder in logischer Weise zueinander. Vielleicht kommt im einen oder anderen Fall der metaphysische Hintergrund der Handlung zu kurz. Trotzdem wirkt diese vielfach ausgezeichnete Inszenierung sehr suggestiv auf die Zuschauer. Und dies gilt vor allem für jene Szenen, wo Amina mit einem blutroten Kleid erscheint. Es scheint so, als ob die Halluzinationen hier körperliche Auswirkungen haben. Unter der robust-explosiven Leitung von Michele Gamba kann sich das Staatsorchester Stuttgart an diesem Abend sehr gut entfalten. Der Zauber von Bellinis betont romantischen Belcanto-Arien lässt so nicht lange auf sich warten, sondern erreicht vor allem bei den rasanten Koloraturen von Mirella Bunoaica als Amina eine ungeahnte Intensität und Farbigkeit des Ausdrucks. Auch die feinsinnig weitergesponnenen Kadenzen, Arabesken und Figurationen bleiben in all ihrer reizvollen Feingliedrigkeit im Gedächtnis. Die melodische Erfindungskraft des Komponisten und die ausdrucksvollen lyrischen Momente beherrschen auch die Darbietung der anderen Sängerinnen und Sänger – allen voran der famose Bassist Liang Li als Graf Rodolfo. Eine grandiose Charakterstudie liefert ferner Helene Schneiderman als Müllerin Teresa, die ihrer Fassungslosigkeit aufgrund des ausufernden Geschehens eindringlichen Ausdruck verleiht. Die Darstellung menschlicher Leidenschaften überzeugt ebenso bei Jesus Leon als Elvino mit klangfarbenreichem Tenor. Auch Catriona Smith bietet als Wirtin Lisa ein reizvolles Rollenporträt, bei dem der Charakter dieser außer Rand und Band geratenen und in sich vibrierenden Person sehr gut herausgearbeitet wird. Christian Tschelebiew als Alessio, Juan Pablo Marin als Notar und Antje Keil (La Strige) fügen sich in dieses Handlungsgeschehen nahtlos ein.
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Christian Tschelebiew als Alessio. Copyright: Martin Sigmund
Auch der von Michael Alber prachtvoll einstudierte Staatsopernchor betont Bellinis „unendliche Melodie“ eindrucksvoll. Es kommt immer wieder zu machtvollen Crescendo-Steigerungen, die Verdi vorwegnehmen. Staccato-Passagen als Antriebsmomente und feine Pizzicato-Einlagen bei den Chor-Sequenzen zeigen den Sinn des durchaus sensiblen Dirigenten Michele Gamba für klangliche Durchsichtigkeit und dynamische Abstufungen, die sich immer weiter verfeinern. Den angehaltenen Atem Aminas verdeutlicht Mirella Bunoaica mit sphärenhafter Sicherheit: Sie ist einfach immer da und lenkt in entscheidender Weise das Geschehen. Interessant ist, dass sich die Sänger die thematischen Motive und Verbindungen hier in geradezu idealer Weise zuspielen. So entsteht ein Koloraturen-Feuerwerk, das seinesgleichen sucht. In unheimlicher Weise strahlt dieser genialische Funke auch auf die fieberhaft musizierenden Instrumentalisten im Orchestergraben aus, die die ungeahnten Tiefen von Bellinis facettenreicher Partitur ausloten. Aminas Koloraturarie am Schluss erreicht hier eine anhaltende Ekstase, es ist ein fast panischer Glückszustand, der da beschworen wird. Und die rhythmischen und harmonischen Impulse im Orchester reflektieren geradezu die wilden Herztöne der Protagonistin, die hier in atemberaubender Weise um ihr Leben singt. Da hält dann das Publikum den Atem an, ist fasziniert und berauscht.
Das Staatsorchester Stuttgart fiebert gleich zu Beginn dem Stretta-Taumel entgegen. Chromatische Passagen zeigen dabei die zahlreichen Umschwünge des Handlungsverlaufs. Auch das Hinauszögern der Dominantwirkung und die metrischen Feinheiten bei der Schlussarie „Ah! non credea mirarti“ werden von Michele Gamba und dem Staatsorchester präzis betont. Und die C-Dur-Sequenzen bei Elvino sowie die a-Moll-Passagen bei Amina erreichen neben kantablem Glanz hymnische Kraft. Insbesondere die geheimnisvollen Übergangszustände kann Mirella Bunoaicia mit ihrer Stimme in bewegender Weise beschwören (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Vladislav Parapanov). Viel Applaus und Jubel.
Alexander Walther

 

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