„Der Schaum der Tage“ in der Staatsoper Stuttgart. PERSIFLAGE EINES POLIZEISTAATES
Wiederaufnahme von Edison Denisovs Oper „Der Schaum der Tage“ am 22. Juli 2017
Daniel Kluge, Arnaud Richard und Ed Lyon. Copyright: A.T. Schaefer
Boris Vians gleichnamiger Liebesroman liegt dieser Oper zugrunde, der das Paris der Nachkriegsjahre in intensiver Weise beschwört. Colin ist jung und hat Geld. Sein Freund Chick hat kein Geld, aber eine hübsche Freundin mit Namen Alise. Sie ist die Nichte von Nicolas, Colins neuem Koch. Und der ungestüme Colin möchte sich unbedingt verlieben. Doch das Schicksal will es schließlich anders: Weil Chick nicht mehr mit ihr leben will, wird Alise Partres Bücher und sich selbst verbrennen.
Dies ist eine der stärksten Szenen in der bilderreichen Inszenierung von Sergio Morabito und Jossi Wieler (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Dirk Schmeding; Bühne: Jens Kilian; Kostüme: Anja Rabes). Die schwer kranke Chloe stirbt schließlich, was den Zuschauern dieser packenden Aufführung ebenfalls stark unter die Haut geht. Die geplante Traumhochzeit kann nicht stattfinden. Denn schon vor Jahren hat Dr. Mangemanche in Chloes Lunge eine lebensbedrohliche Seerose diagnostiziert. Um sie abzutöten, muss Chloe ständig von Blumen umgeben sein. Eine Tatsache, die in der visuell subtilen Inszenierung eine große Rolle spielt. Der Priester spendet Glaubenszuversicht, Jesus wäscht seine Hände in Unschuld. Sergio Morabito und Jossi Wieler haben für diese Aufführung eine facettenreiche Ebene gefunden, die der sphärenhaften Schwerelosigkeit von Edison Denisovs Partitur sehr entgegen kommt. Auch der Polizeistaat wird in sarkastischer Weise persifliert.
Aus der Orgel in einem kirchenartigen Ambiente dringt zwischen Halbsäule und Schiebetür plötzlich dichter Nebel, das offene Fenster zeigt verschiedene Landschaften und skifahrende Personen. Auf der Geburtstagsparty von Isis‘ Hündchen sieht man die Tiere in Großaufnahme, das Ambiente scheint sich erheblich zu vergrößern, sogar Jesus Christus feiert bei der skurrilen Party mit den bizarren Jazz-Anklängen Duke Ellingtons mit. Und die Seerose vergrößert sich im Video in gespenstischer Dichte. 1986 konnte die Uraufführung dieser Oper in Paris leider nicht überzeugen, denn dort wurde das Werk durch Striche verstümmelt. Und der Regisseur hatte das Orchester unglücklicherweise geteilt in eine Jazzband, die auf der Bühne postiert war – und in ein wenig vorteilhaftes „Grabenorchester“. Diesen fatalen Fehler hat das Regieteam Morabito/Wieler in Stuttgart glücklicherweise nicht gemacht, was dem Werk nur zugute kommt. Sylvain Cambreling arbeitet mit dem Staatsorchester Stuttgart das Zerfließen dieser Musik jedenfalls eindringlich heraus, das spürt man sogar beim zitierten Sehnsuchtsmotiv aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“. Es wird von Saxophon und Trompete mit Dämpfer gespielt. Die sechs Kontrabässe spielen ebenfalls eine wichtige Rolle im harmonischen Getriebe, das sich in spannungsvoller Weise immer wieder verändert, auffächert und ganz neu zusammensetzt. Leitmotive erinnern stellenweise an Wagner, das Kontra-Fagott untermalt suggestiv alptraumhafte Szenen. Die beiden Paare begegnen sich musikalisch ähnlich wie auf der Bühne, das zweite Paar trägt spürbar komödiantischen Charakter, der sich intensiviert. Die Schwerelosigkeit der Partitur kommt auch bei den reizvollen Pizzicato-Passagen zum Vorschein. Tremolo-Sequenzen der Streicher betonen den zuweilen furchterregenden und düsteren Charakter dieser eigentlich seltsamen Handlung. Das Bewegende der jeweiligen Situation wird von Sylvain Cambreling und dem Staatsorchester Stuttgart sowie von dem von Johannes Knecht sorgfältig einstudierten Chor und Kinderchor nuancenreich herausgearbeitet. Die um Saxophone erweiterten Bläser und das große Schlagzeugarsenal sorgen nicht nur für fetzige Jazz-Sequenzen, sondern auch für wahrhaft monumentale Fortissimo-Ausbrüche – so etwa bei Chloes erschütterndem Tod in einem Blumenmeer. Vier Takte des Songs „Chloe“ bilden übrigens die Basis der gesamten Oper. In hymnischem D-Dur leuchtet das gesamte Orchester schließlich auf, untermalt von geheimnisvollen liturgischen Chorgesängen.
Die Struktur der 21 Szenen wird von Sergio Morabito und Jossi Wieler so konsequent durchgehalten wie vom stets umsichtigen Dirigenten Sylvain Cambreling. Die Oper wird auch durch Gedichte und Chansons des Autors immer wieder kunstvoll erweitert und verändert. Außerdem ist das Vorbild Dmitri Schostakowitsch zu spüren, von dem Edison Denisov in jedem Fall stark beeinflusst wurde. In weiten Intervallen geführte Melodik korrespondiert hier geheimnisvoll mit herber und scharfer Harmonik sowie abrupten Modulationen. Selbst musicalhafte Sequenzen werden nicht ausgespart, was Sylvain Cambreling mit dem Staatsorchester sehr gut herausarbeitet. Liturgische A-Capella-Chöre vereinigen sich intensiv mit Glockenklängen. Assoziationen zum Serialismus tun sich hier wie von selbst auf.
Ed Lyon, Rebecca von Lipinski. Copyright: A.T.Schaefer
Der Tenor Ed Lyon kann als Colin seinen Kantilenen einen überragenden filigranen Ausdruck verleihen, während der Bassbariton Arnaud Richard als Koch Nicolas ein durchaus geschmeidiges Timbre besitzt. Daniel Kluge als Colins Freund Chick überrascht mit einem voluminösen Tenor, der sich auch von den Orchesterfluten nie zudecken lässt. Rebecca von Lipinski überzeugt als Chloe mit ebenmäßiger Sopranstimme, die auch lyrische Passagen sensibel auffängt, ohne in störendes Vibrato zu verfallen. Sophie Marilley hat als Alise vor allem in der Feuerszene einen grandios-bewegenden Auftritt, weil hier schauspielerische und gesangliche Elemente in enger Weise miteinander verschmelzen. Die Feuersbrunst ist ein verblüffender technischer Trick des Regieteams, das hier alle surrealistischen Register in geradezu genialer Weise zieht. In weiteren Rollen fesseln Nozuko Teto als Isis, Marcel Beekman als Priester, Padraic Rowan als Coriolan sowie Marcel Beekman in der Rolle des Pegase als so genannte „Ehrenschwule“, die Colins Traumhochzeit in verstörender Weise vorbereiten. Dirk Schmeding als Schuppentier/Apotheker, Roland Bracht als fulminant basslastiger Doktor Mangemanche, Karl-Friedrich Dürr als Direktor der Waffenfabrik, Marcel Beekman als Seneschall und Mark Munkittrick als swingender Jesus vervollständigen hier ein Ensemble, das optimal aufeinander abgestimmt ist. Der Schauspieler Sebastien Dutrieux schlüft virtuos in die Maus, Jeanne Seguin ist ein recht unschuldiges Mädchen, Manja Kuhl gibt der Katze Profil. Alois Riedel, Peter Schaufelberger, Alexander Efanov, Juan Pablo Marin, Daniel Kaleta, Ulrich Wand, Ulrich Frisch und Sebastian Peter sind die acht vitalen Reinigungsknappen und Schutzmannen, die den „Polizeistaat“ verkörpern.
Der Schluss mit den Kinderstimmen und seinen merkwürdigen Assoziationen zu Alban Bergs „Wozzeck“ zeigt vielschichtige szenische Facetten. Tier und Mensch mutieren schließlich zur Einheit. Die Maus kann Colins Leiden nicht länger ertragen. Es gelingt ihr, die Katze zu überreden, sie endlich umzubringen. In Stuttgart erklang das Lyrische Drama erstmals in seiner französischen Originalgestalt ohne jegliche Striche (Video: Chris Kondek; choreografische Mitarbeit: Andrea Böge). Es ist die Ehrenrettung für ein weithin unterschätztes Werk.
Die Vorstellung wurde von Favo Film GmbH mitgeschnitten und live auf dem internationalen Opernportal „The Opera Platform“ übertragen.
Alexander Walther