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STUTTGART/ Staatsoper: CARMEN. Wiederaufnahme

Unheimliche erotische Kräfte

30.09.2019 | Oper

Bildergebnis für stuttgart carmen
Foto: Martin Sigmund

Georges Bizets „Carmen“ am 29. 9. 2019 in der Staatsoper/STUTTGART

Unheimliche erotische Kräfte

Die unglückliche Liebe von Don Jose zur Zigeunerin Carmen ist eigentlich die Kehrseite der romantischen Liebe. Die Beziehung ist von erotischer Aggressivität erfüllt. So wird es jedenfalls von Sebastian Nübling inszeniert. Ein düsterer Ort überrascht den Zuschauer: Das imaginäre Wohnzimmer ist mit Stehlampen geradezu überfüllt, man spürt Besitzdenken und Kontrolle. Im volkstümlichen Spanien vollzieht sich nach Nietzsches Worten „der Todhass der Geschlechter“. Und die destruktive Kraft verborgener Triebe zeigt sich ebenfalls in Carmens verhängnisvoller Liebe zu dem Stierkämpfer Escamillo, die ihr den Tod bringt. Denn Don Jose ist als Soldat nicht bereit, auf Carmen zu verzichten. So ersticht er die Geliebte schließlich in einer Verzweiflungstat. Alle ziehen zuletzt Clownsmasken an, damit manifestiert sich die geheimnisvolle kriminelle Unterwelt.


Stine Marie Fischer (Carmen). Foto: Martin Sigmund/ Staatsoper Stuttgart

Die Geschichte wird vor allem aus der Perspektive Don Joses erzählt, der Carmen im Lauf der Handlung immer wieder ermordet. Aber Carmen durchlebt auch einen seltsamen Wiederauferstehungsprozess. Darin arbeitet diese Inszenierung (Bühne und Kostüme: Muriel Gerstner; Mitarbeit Kostüme: Eva Butzkies) mit den Mitteln der Tiefenpsychologie. Das Morden offenbart sich außerdem als Lustfantasie. Momente der Freiheit leben in diesem ebenso strengen wie sinnesfreudigen Spanien ebenso auf, obwohl Sebastian Nübling die spanischen Elemente nahezu ausblendet. Carmen trägt eine silberne Robe, ist mondän, leidenschaftlich. Sie besitzt in der ausgezeichneten Darstellung der Mezzosopranistin Stine Marie Fischer eine starke erotische Ausstrahlung. Vor allem das ausdrucksstarke Timbre in der Mittellage und Tiefe machen sie zu einer Idealbesetzung. Dadurch begreift man, wie sehr sich Don Jose in einer Krise seiner Männlichkeit befindet. Arnold Rutkowski gestaltet als kraftvoller Tenor Don Jose mit strahlkräftigen Spitzentönen. Eine hervorragende Besetzung ist auch die exzellente Sopranistin Esther Dierkes als Micaela, die den unglücklichen Don Jose zu seiner Mutter zurückführen will. Trotz nicht immer gelungener szenischer Einfälle macht Sebastian Nübling bei seiner Inszenierung gut deutlich, dass Don Jose tragischerweise nicht erkennt, dass eigentlich Micaela die richtige Frau für ihn ist. Aber der verblendete Don Jose möchte davon nichts wissen. Bei den entscheidenden Auseinandersetzungen mit Carmen blendet er Micaela einfach aus, setzt sie auf einen Stuhl, der zur Wand gedreht wird. Der Betrachter ist bei Carmen hier gleichsam Dreh- und Angelpunkt dessen, was Carmen sein darf und was nicht. Sie wird in der Inszenierung von Sebastian Nübling auch gefesselt, vermag sich aber rasch zu befreien. Man begreift als Zuschauer schnell, dass sie eine Frau ist, die sich nicht unterwirft. Dieses seltsamen Szenario konkreter Situationen offenbart die Lust am Besitz. Daran scheitert jedoch die Beziehung zwischen Carmen und Don Jose. Jose verliebt sich leidenschaftlich in eine Frau, die alles andere verkörpert als Normalität. Die Obsession Don Joses mutiert dabei zu einem Schlachtfeld der Gefühle (szenische Leitung der Wiederaufnahme: Judith Lebiez).

Der Spielraum ist die Wohnung des Don Jose. Es ist ein Zimmer, das sich zu einer „Passage“ der Sehnsucht entwickelt. In dieser Wohnung werden der rebellische Geist und der tote Körper Carmens gefangen gehalten. Und die dämonischen Clowns ergänzen die unheimliche Aura dieser Inszenierung. Die begabte estnische Dirigentin Kristiina Poska stellt die melodischen Qualitäten von Bizets Partitur dabei eindeutig heraus. Formsinn und Klarheit der Harmonik stechen bei dieser ausgefeilten Wiedergabe immer wieder beglückend hervor, die ebenso aufgrund ihrer erstaunlichen Sensibilität besticht. Die jeweilige seelische und dramatische Situation wird so genau erfasst. Und die leitmotivische Wiederkehr manifestiert sich in feinsten Klangzerlegungen, wobei auch die rhythmischen Elemente eine mitreissende Kraft besitzen. Dies überträgt sich natürlich auf die Sängerinnen und Sänger, die sich von dieser Dirigentin getragen fühlen. Andrew Bogard (Zuniga), Pawel Konik (Morales), David Steffens (Escamillo), Heinz Göhrig (Dancaire), Christopher Sokolowski (Remendado), Carina Schmieger (Frasquita) und Maria Theresa Ullrich (Mercedes) sowie Luis Hergon als Surplus bieten allesamt ausserordentlich gelungene Rollenporträts, die stark im Gedächtnis bleiben.

Schon das Orchestervorspiel des ersten Aktes versetzt das Publikum quadrillenhaft in die rasante Stimmung der Stierkampfarena. Zwischen geheimnisvollem Dur und Moll schwebt dann das Vorspiel zum zweiten Akt. Der Frieden der Natur vor der menschlichen Katastrophe im vierten Akt zeigt sich im Vorspiel des dritten Aktes („Arlesienne“). Der Fortissimo-Einsatz des Orchesters beim „Schicksalsmotiv“ mit der Ermordung Carmens im vierten Akt besitzt bei Kristiina Poskas Dirigat packende Präsenz. Zuvor war Don Joses Flehen durch leidenschafliche Melodik in b-Moll unterstrichen worden. Das unruhige Drängen der Musik vermag der Tenor Arnold Rutkowski als Jose mit stupender Technik zu verdeutlichen. In hochdramatischem Ton bekennt sich Stine Marie Fischer bei ihrem glanzvollen Rollendebüt als Carmen zu ihrer uneingeschränkten Freiheit. Der Gesang Carmens mit seiner herabgleitenden Chromatik besitzt dabei nicht nur bei der „Habanera“ etwas Rauschhaft-Hypnotisches. Diese Aufführung arbeitet im Rahmen der Urfassung des Werkes mit gesprochenen Dialogen. Im Finale des ersten Aktes betont die Dirigentin Kristiina Poska die Fugenexposition beim Eintreffen Zunigas sehr präzis. Dass das Thema dem Streitchor der Zigarettenarbeiterinnen entlehnt ist, spürt man sofort. Überhaupt legt die Dirigentin auf konzentrierte harmonische Analyse großen Wert, da bleibt nichts dem Zufall überlassen. Szenische Bewegungsvorgänge werden hier musikalisch packend dargestellt. Motivcharakterisierungen erhalten besonderes Gewicht. Die Video-Einlagen von Gabriele Vöhringer unterstreichen die vielfachen Obsessionen des Don Jose, denn ein imaginäres Auge beobachtet dabei via Bildschirm das tragische Geschehen. Gut gelungen sind auch die Szenen mit Chor und Kinderchor unter der souveränen Leitung von Bernhard Moncado. So gab es am Ende Jubel und rauschenden Schlussapplaus für den Staatsopernchor, das Staatsorchester, die Sänger und auch für die Dirigentin.

Alexander Walther

 

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