Staatsoper Stuttgart
„BORIS“ 5.3.2022 (Wiederaufnahme) – es bleibt ein problematisches Projekt
Von der Geschichte verfolgt: Adam Palka als Boris. Copyright: Matthias Baus/ Staatsoper
Es war die letzte Premiere vor Beginn der Corona Pandemie, die mit vier Folgevorstellungen noch planmäßig über die Bühne gehen konnte. Jetzt wurde dieses nach wie vor als problematisch einzuschätzende Projekt einer Verzahnung bzw. Ergänzung von Modest Mussorgkys renommiertestem Bühnenwerk mit einer neuen Komposition namens „SECOND HAND ZEIT“ von Sergej Newskj wieder aufgenommen. Die historische Geschichte des zum Zaren aufgestiegenen und an seiner Schuld durch die Ermordung des rechtmäßigen Thronfolgers zerbrechenden Bojaren Boris Godunow wird in Bezug gesetzt zu sechs ausgewählten Geschichten der weißrussischen Autorin Svetlana Alexijewitsch, die die Erinnerung verschiedener neuzeitlicher Einzelschicksale aus dem Volk nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herauf beschwören. In Form von melodramatischen monologischen Sprechgesängen und gesprochenen Teilen auf Zwölftonmusik-Clustern dringen diese von Solisten der Mussorgsky-Oper parallel übernommenen Stimmen aus Mittel- und Seitenlogen in den Raum, um sich am Ende nach Boris Tod zu einem simultanen Ensemble zu vereinigen. Je mehr sie nicht nur als Intermezzo, sondern in die Szenen der Oper zwängen und sich nach Boris Tod wie eine Geschichtserweiterung anhängen, um so mehr erweist sich Newskjs Werk als eigenständiges Opus, das den ohnehin starken Mussorgsky unnötig konterkariert und aufbläht.
Der Gesamteindruck ist nichtsdestotrotz erhebend und von enormem Anspruch an Ausführende und Publikum. Die konzentrierte Regie von Paul Georg Dittrich im mittels Drehbühne schnell verwandelbaren Bühnenraum von Joki Tewes und Jana Findeklee, in dessen Zentrum ein kronenförmiges einem Pavillon ähnliches Riesengehäuse symbolischen Charakter bekommt, verortet das Geschehen mittels der historische Stile aufgreifenden Kostüme von Pia Dederichs und Lena Schmid in einem Konglomerat aus Vergangenheit und Gegenwart. Nur die im oberen Bühnenbereich am Dach des Pavillons eingeblendeten, ständig wechselnden Bilder russischer Geschichte sind zumindest in den intimeren Szenen ein überflüssiger Unruhe- und Störfaktor.
Rollengemäß überragend präsentiert Adam Palka seinen seriösen, in jeder expressiven Nuancierung wohltönend weichen und doch imponierend mächtigen Bass mit auffallend sicher verankertem Höhenregister in Verbindung mit starker szenischer Präsenz und der Fähigkeit zur Verinnerlichung eines gespaltenen Charakters. Von den Gegenspielern gibt David Steffens bei seinem Debut als Chronik schreibender Mönch Pimen Zeugnis seines beständig an Kraft und Interpretation gewinnenden Basses, dem nur für das russische Fach noch etwas dunklere Farben gut anstünden.
Maxim Paster, für den erkrankten Stefan Margita kurzfristig aus Warschau eingeflogen, wo er in eine aus aktuellem Anlass abgesetzten Boris-Produktion eingeplant war, stattet den intriganten Fürsten Schujski mit rollengerecht zwielichtig zwischen Sein- und Schein- Verlautbarungen wechselndem feinem Tenor und damit einher gehender mimisch-gestischer Prägnanz aus. Als falscher Grigorj bringt Elmar Gilbertsson seinen leichten, klangschönen, lyrisch grundierten Tenor ein, als jüdischer Partisan bei Newskj bezeugt er auch bissfesteren Ausdruck. Seine Alter Ego als Kind und alter Mann sind Ramina Abdulla-zadé und Urban Malmberg.
Zu den anhand ihrer Doppelfunktion in beiden Stücken ebenfalls erweitert geforderten Solisten gehören Alexandra Urquiola als Fjodor und Aktivistin mit dunkel glänzendem Mezzo, Kyriaki Sirlantzi als Xenia und Geflüchtete mit bis in die Extreme bei Newski klar ansprechendem beseeltem Sopran, Stine Marie Fischer als Schenkwirtin und Frau des Kollaborateurs mit hier bis in die Tiefen mühelos dringendem Alt sowie Petr Nekoranec, der als Gottesnarr und Obdachloser mit belcantistisch fein intonierendem Tenor herzbewegend zu klagen weiß. Bedauerlich ist der als Ensemblemitglied geführte junge Tscheche derzeit so wenig am Haus eingesetzt, obwohl ihm das aktuelle Repertoire einiges bieten würde.
Ein starkes, aus der Fülle seines Baßbaritons schöpfendes Portrait liefert Friedemann Röhlig als angeheitertet Mönch Warlaam, assistiert von Alberto Robert als Missail. Zu erwähnen sind noch weitere Mitglieder des Opernstudios wie Jorge Ruvalcaba als Schtschelkalow und Gerard Farreras als Mikititsch.
Dass diese Wiederaufnahme-Vorstellung überhaupt stattfinden konnte ist der Ukrainerin Christina Daletska zu verdanken – eine Expertin für die Interpretation Neuer Musik, die nach dem Ausfall von Maria Theresa Ullrich neben der Übernahme der Amme innerhalb von drei Tagen die Rolle der Mutter des Selbstmörders einstudierte und dabei mit ihrem klangvollen Mezzo über die reine Tonwiedergabe hinaus viel Anteilnahme mitschwingen lässt. Den szenischen Part gestaltete Veronika Schäfer. Opernintendant Viktor Schoner hatte also erneut guten Grund eine Ansage zu machen, um auf diese Umstände hinzuweisen, aber auch nach einem kurzen Gespräch mit Sergej Newski vor dem Vorhang um eine Schweigeminute für die Kriegsopfer in der Ukraine zu bitten.
Der Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Manuel Pujol) erfüllte die großen Volksszenen unterstützt durch eine meist rampennahe Position mit jener inbrünstig durchdringenden Klangfülle und Ausdrucks-Bandbreite zwischen Lobeshymnen und Wehklagen, die mit russischen Volksmassen in Verbindung gebracht werden. Einige Damen ersetzten den Part des Kinderchores, der ohne Masken immer noch nicht wieder für Veranstaltungen zugelassen ist. Premierendirigent Titus Engel führte das diesmal in den Holzbläsern mit einigen Unebenheiten behaftete Staatsorchester Stuttgart mit beweglichem Ausgleich zwischen expressiven Klangballungen und fast zerbrechlichem Tongewebe.
Mächtiger Applaus!
Udo Klebes