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STUTTGART/ Staatsoper: BORIS von Mussorgski/Newski. Premiere

Viele verschiedenen Zeitebenen

03.02.2020 | Oper


Der Stuttgarter Staatsopernchor. Foto: Matthias Baus

STUTTGART: Premiere „Boris“ von Mussorgski/Newski am 2. Februar 2020 in der Staatsoper/STUTTGART

Viele verschiedene Zeitebenen

 Hier betritt das Regie-Team Neuland. Zwei Werke werden hier gleichzeitig raffiniert verzahnt: In der Regie von Paul-Georg Dittrich verschmilzt Modest Mussorgskis „Boris Godunow“ mit Sergej Newskis Neukomposition „Secondhand-Zeit“. Newskis Werk basiert auf Texten der Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die in ihrem gleichnamigen „Roman der Stimmen“ die Lebenserfahung unzähliger Einzelner in Zeiten politischer Wirren nach der Perestroika zu Literatur umarbeitete. Stimmen aus der jüngeren Vergangenheit tauchen plötzlich auf und stellen Fragen an Gegenwart und Zukunft.


Adam Palka als Boris. Foto: Matthias Baus

Mussorgskis „Boris Godunow“ wird ungekürzt in der Urfassung und in russischer Originalsprache gespielt, was ein Vorteil ist, denn auch Rimskij-Korssakows Bearbeitung lässt Fragen offen. Newskis musiktheatralische Erinnerungssplitter erklingen zwischen den einzelnen Mussorgski-Tableaus. Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass Mussorgskis Meisteroper zerstückelt wird und vielleicht auch weniger effektvoll wirkt. Man kann geteilter Meinung sein. Die Krönung Boris Godunows zum Zaren weckt auch hier Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Doch die Vergangenheit holt ihn ein: Ein Mann nahmens Dimitri soll als Kind in Godunows Auftrag ermordet worden sein. Zar Boris zerbricht an der Wiederkehr der Toten – und „Secondhand-Zeit“ von Newski lässt das Publikum in traumatische Erlebnisse eintauchen. Da sieht man dann ein riesiges Auge, in dessen Innerem sich ölbedeckte Vögel befinden. Oder es erscheinen Stalin, Roosevelt und Churchill anlässlich der Nachkriegs-Verhandlungen. Aber auch Gorbatschow und seine „Perestroika“ werden hier in suggestiver Weise sichtbar.

Diese visionären Bilder strömen auf die Zuschauer ein. Verschiedene Zeitebenen werden gleichzeitig gestreift. Ein Guckkastentheater öffnet sich plötzlich in gewaltiger Weise: Goldene Tore und riesige Masken beeindrucken den Betrachter. Da sieht man dann Lenin, Putin und die Zaren Peter der Große und Nikolaus II., da verdichtet sich Geschichte auf einem konzentrierten Raum. Im oberen Zeitfenster erscheint zudem das Konterfei von Karl Marx zwischen Totenköpfen und halb verendeten Menschen. Eine erschütternde Szenerie, die sich tief einprägt. Die Bühne von Joki Tewes und Jana Findeklee scheint sich dabei immer mehr zu erweitern und auszudehnen. Und auch die Kostüme von Pia Dederichs und Lena Schmid passen sich mit Goldbrokat-Gewändern den szenischen Gegebenheiten an. Video-Einblendungen von Vincent Stefan zeigen sogar Szenen aus dem Ersten Weltkrieg. Zuletzt wird der sterbende Zar Boris in seiner Kammer eingemauert. Das ist eine glänzende Regie-Idee.

Unter der elektrisierenden Leitung von Titus Engel musiziert das Staatsorchester Stuttgart vor allem auch Sergej Newskis Partitur in hervorragender Weise. Die barocke Stimmbehandlung und das Dehnen des Textes treten so grell und deutlich hervor. Das melismatische Aussingen von Zeilen sticht immer wieder eindringlich heraus und wird von den Sängern ausgezeichnet gelöst – allen voran Maria Theresa Ullrich als Mutter des Selbstmörders. Sie singt auch sehr klangschön Xenias Amme. Und auch Carina Schmieger kann als Geflüchtete ebenso hervorragend überzeugen als auch als Xenia bei Mussorgski sowie Alexandra Urquiola als die Aktivistin und Fjodor. Stellenweise erinnert Newskis Partitur auch vereinzelt an Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“. Das Publikum wird auf jeden Fall in gewaltiger Weise gefordert, was man ebenso von den Sängern sagen kann.


Adam Palka (Boris), Carina Schmieger (Xenia). Foto: Matthias Baus

Doch unter der sehr kompetenten Leitung von Titus Engel musiziert das Staatsorchester Stuttgart ausgezeichnet flexibel, die Sänger werden wie auf Händen getragen. Dies kommt vor allem auch dem fulminanten Boris von Adam Palka zugute, dessen Angstmonolog im zweiten Akt eine grandiose gesangliche Verdichtung erfährt. Sein Abschiedsmonolog mit dem ergreifenden Des-Dur des Gebets „Herrgott, ewiger Vater“ erreicht gesangliche Siedegrade, die diese kernig-kraftvolle Baritonstimme prägen. Hervorragend hinsichtlich Intonation und wandlungsfähiger Kantilenenführung ist auch Fürst Wassili Schuiski in der Darstellung von Matthias Klink. In weiteren Rollen überzeugen Goran Juric als Pimen, Elmar Gilbertsson als Grigori Otrepjew/Der jüdische Partisan, Ramina Abdulla-zade als der jüdische Partisan (Kind), Urban Malmberg als Der jüdische Partisan (als alter Mann), Friedemann Röhlig als Warlaam, Stine Marie Fischer als  Schenkwirtin/Die Frau des Kollaborateurs, Petr Nekoranec als Gottesnarr/Der Obdachlose, Pawel Konik als Schtschelkalow, Charles Sy als Missail/Leibbojar, Ricarda Llamas Marquez als Mikititsch/Offizier der Grenzwache sowie Matthias Nenner/Heiko Schulz als Mitjucha.

Bewegend und grandios agiert der famose Staatsopernchor Stuttgart in der Einstudierung von Manuel Pujol, dessen Volumen an diesem Abend so monumental ist, dass man gar einen Aufbruch in neuartige dynamische Sphären vermutet. Von der naiven Kinderweise bis hin zu wildester Leidenschaft steigert sich dabei die harmonische Entwicklung. Aber auch die russische Volksmusik triumphiert in immer wieder anderen klangfarblichen Schattierungen. Tremolo-Akzente der Streicher unterstreichen aufwühlend die Atmosphäre der Angst und des Entsetzens, die am Zarenhof herrscht. Auch das Glockenthema wird unter der emotionalen Leitung von Titus Engel in großartiger Weise gestaltet. Klösterliche Ruhe und bewegtes Volkstreiben erreichen im ersten Akt eine nuancenreiche klangliche Entsprechung. Der westliche Charakter des in Polen spielenden dritten Aktes wird dabei durchaus unterstrichen. Die magische Suggestionskraft dieser Musik und das mächtige theatralische Pathos kommen an diesem Abend voll zur Entfaltung. Der Jüdische Partisan aus „Secondhand-Zeit“ kommt beispielsweise in mehreren Intermezzi dem traumatischen Kern seiner Kindheit näher. Ergänzt wird dieses unheimliche Geschehen durch sechs der von Swetlana Alexijewitsch porträtierten Lebensgeschichten als durchaus reizvolle musikalische Erinnerungssplitter, wenngleich sie Mussorgskis Musik zuweilen in fataler Weise zerreissen. Da kommt es zu Brüchen, die harmonisch nur schwer zu kitten sind. Liebe und Familie werden dem Krieg um die Macht geopfert. Das ist erschütternd. Am Ende triumphiert ein ungeheurer Ausbruch aus diesem Kreislauf von Gewalt. Als utopisches Bild wird der achte Tag der Schöpfung beschworen. Man steht vor den Trümmern der Existenz.

Lang anhaltende Ovationen gab es an diesem Abend in heftiger Weise für die musikalischen Leistungen, „Buh“- und „Bravo“-Rufe galten der Inszenierung.   

Alexander Walther

 

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