Adam Palka, Matthias Klink. Foto: Martin Sigmund
Stuttgart: BORIS von M.Mussorgski und Sergej Newski 7.2.2020
In der 2. Spielzeit von Viktor Schoner & Cornelius Meister kommt die Staatsoper Stuttgart jetzt mit einem ganz ehrgeizigen und ambitionierten Projekt heraus. Sie kombiniert die Urfassung der Oper Boris Godunow von Mussorgski mit einer Auftragskomposition von Sergej Newski auf sechs Begebenheiten aus dem Text ‚Secondhand-Zeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus‘ von Swetlana Alexijewitsch (deutsche Übersetzung: Ganna-Maria Braungardt). Dabei wird letztere Komposition mit dem Mussorgski-Teil zu einem geschlossenen Ganzen szenisch ineinander verwoben, indem auch die Sängerinnen im Godunow-Teil zu Protagonistinnen der Begebenheiten in ‚Seconhand-Zeit‘ mutieren.
Die Urfassung von Boris Godunow 1869 bietet sich natürlich eher für eine solche Herangehensweise an, da sie wie ein ungeschliffener Rohdiamant die andere zeitgenössische Komposition problemlos amalgamieren kann. Sergej Newski entpuppt sich dabei als ein sehr intelligenter, wacher Komponist, der viele Errungenschaften der modernen 12-Ton- und seriellen Technik, aber auch des freien Komponierens der Postmoderne aufgreift und für seine ausgewählten Erzählungen gewinnbringend einsetzt. Der musikalische Fluß dieses ‚Boris‘ zieht einen insoweit in Bann, und man fühlt sich auch durch den Gegensatz dieser Spanne von Klängen durchaus angezogen.
Die Zeit der Heraufkunft B.Godunows wird auch als Umbruchszeit begriffen, eine neue Dynastie löst diejenige von Zar Ivan ab, dessen letzter Sproß aber ermordet wurde. So scheint untergründig immer eine Ebene der Unrechtmäßigkeit eingezogen, die auch in der düsteren Inszenierung von Paul-Georg Dittrich zum Ausdruck kommt. Zu Beginn sehen wir den ‚Palast‘ eines berstenden Atomkraftwerks, Bühne Joki Tewes & Jana Findeklee; die Menschenmassen robben ölverschmiert aus den Kühlteichen heraus. Hier haben wir also, bevor der neue Zar die Treppe aus seinem Palast hinabsteigt, die Verknüpfung zum Heute, die der damals eindimensionaleren Gesellschaft als DNA schon eingeschrieben ist. Zarentochter Xenias Amme ist gleichzeitig die Mutter eines jungen Selbstmörders in der ‚Secondhandzeit‘. Maria Theresa Ullrich ist diese Mutter, die sich den Tod ihres Sohnes, der so literatur- und sprachbegabt war, nie erklären kann, und singt diese tragische Figur mit tiefem Mezzosopran aus der Seitenloge. Die Schenkwirtin ist gleichzeitig die Frau eines Kollaborateurs, der nach ihrer kurzen Liebe von den Sowjets erschossen wird. Stine Marie Fischer gestaltet sie mit schön fließendem Mezzosopran. Boris‘ Tochter Xenia, deren Verlobter noch vor der Hochzeit stirbt, und die Geflüchtete, die dem Trauma des Bürgerkrieges in Georgien entflieht, wird vom Sopran Carina Schmieger mit hellem einnehmendem Timbre gesungen. Thronfolger Fjodor als Hosenrolle ist bei Newski/Alexijewitsch eine Aktivistin, die vor dem Bürgerkrieg in Tadschikistan geflohen ist und sich in Moskau für die Rechte de geflüchteten Billiglohnsklaven einsetzt. Diese beiden Rollen werden sehr distinguiert pointiert vom Mezzo Alexandra Urquiola übernommen. Die meisten Männer aus Boris Godunov übernehmen aber keine Parallelrollen in den Secondhandzeit-Texten außer Elmar Gilbertsson, der den Grigori Otrepjew und einen jüdischen Partisan tenoral übernimmt sowie Petr Nekoranec, der den geschlagenen Gottesnarr mit sehr expressivem Tenor singt und einen Obdachlosen, der dem raubtierhaften Turbokapitalismus der 90er Jahre zum Opfer fällt.
Boris, von Adam Palka gesungen, tritt mit seinem herrlich dunklen und mächtig tragendem Baß nur bei Mussorgski auf. Ebenso der wunderbar austariert singende Tenor Matthias Klink als Schuiski. Als Pimen tritt der Baß Goran Juric auf. Den Mönch Warlaam stellt der Baß Friedemann Röhlig, und als Dumaschreiber Schtelkalow ergänzt baritonal Pawel Konic.
Der klangstarke wohllautende Chor, bei Mussorgski vielfältig gefordert, tritt bei ‚Secondhand‘ eher selten in Aktion. Genau und präzise ist er, zusammen mit dem E-Chor, von Manuel Pujol studiert, Bernhard Moncado leitet den Kinderchor.
Eine großartig weitgespannte Phantasiepalette beherrschen die Kostüme von Pia Dederichs und Lena Schmid.
Das ganz hervorragend aufspielende Orchester wird animiert und kompetent von Titus Engel geleitet.
Ein in Atem haltendes anspruchvolles Spektakel in magischer Klangverpackung, das einen mit vielfältigsten Bildern von allen Seiten in Beschlag legt. Ein Gesamtkunstwerk scheint hier gelungen.
Friedeon Rosèn