„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill am 11. Mai 2024 in der Staatsoper/STUTTGART
Der Tanz ums goldene Kalb
Elmar Gilbertsson; Alisa Kolosova, Joshua Bloom. Foto: Martin Sigmund
Die Inszenierung von Ulrike Schwab wartet mit einer Überraschung auf, denn das „Jüngste Gericht“ von Michelangelo ist Teil des einfallsreichen Bühnenbildes von Pia Dederichs und Lena Schmid. Die Kostüme von Rebekka Dornhege Reyes passen sich dem utopischen Entwurf an. Es wird gezeigt, wie die Menschen miteinander ins Gericht gehen. Davon erzählt auch das Bodentuch mit dem Gemälde von Michelangelo, wo 400 nackte Personen zu sehen sind. Auch hier existiert Aufstieg und Fall – der azurblaue, unendliche Himmelsraum ist in ständiger Bewegung. So gibt es in Ulrike Schwabs Inszenierung ebenfalls nackte Protagonisten. Es war ein absoluter Skandal, als das Gemälde in der Renaissance-Zeit enthüllt wurde. Es ist außerdem in das Kostümbild integriert worden. Hinter den Kostümen des Chores möchte man so eins mit dem Bühnenbild werden. Für Ulrike Schwab gibt es Mahagonny gar nicht, es ist vielmehr eine reine Idee. Und die Kapitalismuskritik steht deutlich im Zentrum.
Im Laufe der drei Akte entwickelt sich die Stadt zu einer Hochburg der Gewissenlosigkeit. Zu Beginn des zweiten Aktes wird der Themenkomplex „Todsünden“ gezeigt. Das demonstrieren hier Bühnenbildelemente. Erst kommt das Fressen – dann folgt die „Lieben“-Szene, die einer Folterung gleicht. Selbst beim Saufen gibt es biblische Anspielungen: Eine Regenrinne soll alles wie eine Sinflut überschwemmen. Ruth Berghaus hat in der Staatsoper Stuttgart übrigens die letzte „Mahagonny“-Inszenierung in den 90er Jahren gemacht. Ulrike Schwab erzählt die Geschichte eindeutig aus dem Blickwinkel von Begbick und Jenny (inspiriert vom Skandalroman „Baise-moi“ von Virginie Despentes und Filmen wie „Thelma und Louise“). Die „vierte Wand“ wird dann mit einem Steg in den Zuschauerraum durchbrochen. Es wird zusätzlich in den Logen rechts und links im ersten Rang gespielt. Die Kostüme sind eine reizvolle Collage aus Stilen und Versatzstücken vergangener Welten. Die Unternehmerin Begbick und die Sexarbeiterin Jenny sinnieren im Prolog über die Zerstörung der Paradiesstadt Benares. Man hofft auf eine neue Paradiesstadt – so entsteht eben Mahagonny. Zusammen mit dem seltsamen Prokuristen Fatty und dem Dreieinigkeitsmoses nimmt dieses Fangnetz für Goldgräber Gestalt an. Auch die Sexarbeiterin Jenny und sechs Mädchen lassen sich hier nieder. Der Holzfäller Jim Mahoney kommt als anständiger Mann in die Stadt, der sich angewidert von den Verbrechen der Kriminellen abwendet. Aber Jenny hält ihn wie ein Magnet fest, was die Inszenierung gut herausarbeitet. Man sieht geheimnisvolle Vorhänge mit weißen Tüchern. Da droht ein Taifun die Stadt heimzusuchen, die weißen Vorhänge werden vom Wind weggeweht. Unruhe macht sich breit. „Erlaubt ist was gefällt“ lautet Mahoneys Wahlspruch. Nachdem die erwartete Katastrophe nicht eingetroffen ist, geht das Leben in Mahagonny wie gewohnt weiter. Ein Freund Mahoneys wird das Opfer seiner Völlerei, ein anderer stirbt im Boxring. Um die Stimme des Gewissens zu beruhigen, veranstaltet Mahoney ein Trinkgelage, dessen Kosten er nicht bezahlen kann. In der Inszenierung sieht man goldene Kälber, hört Anklänge an Passionsmusiken und erfährt Reminiszenzen an den Katholizismus. Für ein Kreuzritual wird sogar ein Zuschauer aus dem Publikum geholt.
Joshua Bloom, Elmar Gilbertsson. Foto: Martin Sigmund
Das Staatsorchester Stuttgart unter dem Generalmusikdirektor Cornelius Meister hat sogar auf der Bühne Platz genommen, die Musiker mischen sich mit ihren Instrumenten schließlich unter die Menge. Der biblische „Tanz ums goldene Kalb“ nimmt Gestalt an. Im Schlussakt sieht man Wolken am Himmel, es folgt ein großer Regen. Man erkennt sogar eine Art Mond. Von der Empore aus erscheinen ebenfalls einige Protagonisten aus der Spelunke. Die Begbick lässt Mahoney kurzerhand verhaften und vor Gericht stellen. Dieses verurteilt ihn zum Tode, denn in Mahagonny gibt es kein größeres Verbrechen als kein Geld zu haben. Vor seiner Hinrichtung richtet er an die Männer die Mahnung, seiner Lehre treu zu bleiben. Dadurch gerät alles aus den Fugen. Jenny erschießt reihenweise die Einwohner Mahagonnys. Der Untergang dieser Stadt ist besiegelt, man denkt sogar an die biblischen Städte Sodom und Gomorrha. Zuletzt bleiben nur die beiden starken Frauen Leokadja Begbick und Jenny Hill übrig, die mit Schlagzeug und Gesang „Oh when the saints go marching in“ intonieren.
Das Staatsorchester Stuttgart bietet unter Cornelius Meister (der an diesem Abend auch als virtuoser Pianist zu hören ist) eine fulminante Leistung. In den Ensembleszenen findet sogar die Grand Opera mit Anklängen an Verdi-Opern statt. Alles ist von elektrisierender Wirkung. Melodisch wie rhythmisch ist das Ganze wie aus einem Guss. Tremolo-Passagen und fugenartige Ansätze blitzen schillernd auf. Gauner, Huren und Sonderlinge bieten ein seltsames Bild, das von Ulrike Schwab immer wieder grotesk überzeichnet wird. Durchkomponierte Partien wie der „Alabama“-Song stehen im Mittelpunkt, ein großes Orchester ersetzt die Jazzband der „Dreigroschenoper“, an die jedoch manches erinnert. Die Aufführung beginnt mit dem „Benares Song“, der in Ruth Berghaus‘ Inszenierung den Schluss bildete. Obwohl die Oper trostlos endet, möchte Schwab der Utopie und Hoffnung Raum geben. Davon zeugt die letzte berührende Szene mit den beiden Frauen. Den dramaturgisch schwächeren dritten Akt hat Ulrike Schwab klug gestrafft, teilweise spielen die Szenen im Zuschauerraum. Einen ganz starken Auftritt hat Kai Kluge als Jim Mahoney, der bei seinem Abschiedsgesang über sich selbst hinauszuwachsen scheint. Neben diesem überzeugenden Tenor können sich auch Alisa Kolosova als Leokadja Begbick und Ida Ränzlöv als Jenny Hill mit betörender gesanglicher Strahl- und Ausdruckskraft behaupten. Cornelius Meister gelingt es, den melodischen Fluss in die Breite und Tiefe strömen zu lassen. So denkt man sogar manchmal an Ernst Kreneks Oper „Jonny spielt auf“. Die erweiterte Tonalität von Kurt Weills Musik wird neben den expressiven Choralfantasien in besonderem Maße herausgearbeitet.
Foto: Martin Sigmund
In weiteren Rollen überzeugen Elmar Gilbertsson als „Prokurist“ Fatty, Joshua Bloom als Dreieinigkeitsmoses, Joseph Tancredi als Jakob Schmidt/Tobby Higgins, Björn Bürger als Sparbüchsenbill, Jasper Leever als Joe sowie die stimmgewaltigen sechs Mädchen von Mahagonny Mimi Doulton, Marion Germain, Jutta Hochörtler, Rosario Chavez, Melis Vlahovic und Vladyslav Shkarupilo. Der Staatsopernchor bietet unter der Leitung von Manuel Pujol wieder eine hervorragende Leistung. Die 20er Jahre mit ihren Gegensätzen von Wohlstand und Armut sowie die Beschleunigung der Welt durch neue Medien wie Rundfunk bilden hier einen deutlichen Schwerpunkt, der sich szenisch bemerkbar macht. Selbst die sich anbahnende Klimakatastrophe bleibt spürbar. Die Frage nach einem neuen Mahagonny drängt sich zuletzt geradezu auf. Obwohl man manchmal den roten Faden vermisst, kann diese Inszenierung im Großen und Ganzen fesseln.
Am Schluss folgen viele „Bravo“-Rufe und ein geradezu überwältigender Jubel mit wenig Widerspruch für die Regie.
Alexander Walther