Staatsoper Stuttgart
„WERTHER“ 2.12. 2022– Emotionalität ganz nah am Publikum
Rachael Wilson, Atalla Ayan im 4. Akt. Foto: Martin Sigmund
Vielleicht hätte Jules Massenets gefühls-ekstatisches Musikdrama nach dem berühmten Briefroman Goethes auch die Beihilfe von Dragqueens benötigt, um mehr und vor allem auch sparten-fremdes Publikum ins Haus zu locken wie jüngst die Inszenierung von Dvoraks „Rusalka“. Jedenfalls ging diese Freitagabend-Vorstellung vor sehr gelichteten, teilweise leeren Reihen über die Bühne. Und das auch noch in der dicht an die Zuschauer heran geholten Regie von Felix Rothenhäusler, die all den Aufruhr der Gefühle in den Seelen von Werther und Charlotte auf einer hell erleuchteten, den Orchestergraben überdeckenden runden Spielfläche wie unter Brennglas, ohne Abstand auf uns einwirken lässt. Bei der nichts, auch nicht die gestrichenen Nebenrollen Johann und Schmidt und auch keine Requisiten vom inneren Gehalt ablenken, nur einige Gänge und Bühnenumrundungen nach wie vor etwas unmotiviert scheinen, die Frage nach der Ausstaffierung des Amtmanns als Security und Sophies mit Aktenköfferchen ( Kostüme: Elke von Sivers) sowie nach den sich in den ersten beiden Akten aus dem Zuschauerraum zusehends nach vorne arbeitenden Statisten immer noch unbeantwortet bleiben. Ein ungemein poetisches Sinnbild bleibt Werthers Sterbeszene in einem Meer von herabfallenden (blut-)roten Blüten.
Die musikalische Wiedergabe hätte sich erst recht mehr Publikum verdient. Unter der dynamisch beweglich nuancierten und die Stimmen ideal unterstützend einbettenden wie tragenden Leitung von Alejo Pérez ließ das auf der Bühne hinter der Spielfläche platzierte und so transparenter als im Graben vernehmbare Staatsorchester Stuttgart die speziellen Klangfarben, die Spannungsverhältnisse zwischen zartestem Seelenhauch und aufwühlenden Entladungen mit delikaten Beiträgen aus allen Stimmgruppen erlebbar werden.
Von Akt zu Akt steigerte sich Atalla Ayan in der Titelrolle von zunächst noch etwas monochrom vollem, zu wenig intimem Tonansatz zu einer differenzierteren und mit mühelosem Höhenregister die ganze Gefühlsskala erfassenden Interpretation, wobei sein markant attraktives Timbre in allen Lagen speziell auch das Herz von Tenorfans höherschlagen lassen dürfte.
Ein Gutteil seiner emotionalen Verausgabung geht auch auf das Konto des Objekts von Werthers Begierde, denn Rachael Wilson, die von der Premiere im Juli 2021 an dabei war, ist eine vokal und gestalterisch außerordentlich faszinierende fraulich feine Charlotte: mit einer breiten Palette an Schattierungen von sanfter Zurückhaltung bis zu leidenschaftlicher Emphase in Spiel und Gesang, den sie mit einem hellen, in der Tiefe dunkel leuchtenden, in der Mittellage schwebend leichten und in der Höhe strahlkräftigen, im Innersten erfüllten Mezzosopran mit delikater französischer Artikulation veredelt. Ein ganz starkes Rollenportrait!
Neu hinzugekommen als Sophie ist Beate Ritter, die die unbekümmertere jüngere Schwester Charlottes mit duftend höhen-filigranem Sopran und liebreizend schlankem Tonfall zur kontrastierenden Lichtgestalt formt. Auch Jorge Ruvalcaba aus dem Opernstudio macht in seiner ersten größeren Partie als Albert mit gleichmäßig durchgeformtem Bariton und prononciertem Ausdruck gute Figur und gibt damit ein Versprechen für die Zukunft.
Nur Shigeo Ishino als eines Teils seiner Einsätze beraubter Amtmann bleibt mit arg strammem Bariton ein Fremdkörper in Massenets musikalischem Stil. Mitglieder des Kinderchores der Staatsoper verdichten die Eingangsszene weihnächtlicher Chorprobe mit passend naiver Intonation.
Rauschender Beifall mit leider nur vereinzelten Ovationen.
Udo Klebes