„Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horvath im Schauspielhaus Stuttgart
Tiste Stimmung im Hotel
„Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horvath am 24. 6. 2025 im Schauspielhaus / STUTTGART
Felix Strobl, Laura Balzer. Foto: Julian Baumann
Es ist die Zeit der Inflation und der Irrnisse und Wirrnisse in der Weimarer Republik. In der Regie von Christina Tscharyiski, der Bühne von Sarah Sassen und den Kostümen von steht Monumentales neben Naturereignissen. Man sieht die Umrisse einer Riesenstatue, die als Attrappe für das komplizierte Seelenleben dieser Protagonisten dient. Schließlich schneit es sogar. Im Hotel „Zur schönen Aussicht“ trifft sich eine ausgesprochen morbide Gesellschaft, die eigentlich alles auf den Kopf stellt. Ganz entfernt ist schon der unheimliche Sog der Nazi-Zeit spürbar. Vor allem das Geld fehlt. Nur Ada, die betagte Freifrau von Stetten, hat zu viel davon. Sie sorgt schließlich für ganz erhebliche Turbulenzen. Rausch und wechselnde Liebhaber gehören zum Alltag. Als Domina lässt sie diese dressierten Herren aus einer Schüssel Wein trinken. Das verkommene Gesellschaftsleben wird so ad absurdum geführt. Dazu gehört auch Strasser, der als Hotelbesitzer, ehemaliger Offizier und Bonvivant immer wieder für erfrischende Abwechslung sorgt. Da ist dann auch noch Max als gewiefter Kellner mit undurchsichtigen Verbindungen zum kriminellen Milieu – und Karl als Chauffeur mit dunkler Vergangenheit. Diese zwielichtigen Herren lassen sich von der burschikosen Baronin aushalten. Der Weinhändler und Faschist Müller heizt diese seltsame Stimmung noch zusätzlich an. Adas Zwillingsbruder Emanuel, Freiherr von Stetten, gerät zuletzt zwischen alle Stühle.
Gut herausgearbeitet wird in dieser Inszenierung, wie die von Laura Balzer glaubwürdig gespielte Christine in dieses Treiben gerät. Therese Dörr mimt sehr wandlungsfähig die mondäne Baronin von Stetten, die sich zunächst als Christines erbitterte Gegenspielerin zeigt, bis sie sich ihr zuletzt annähert. Christine war schon einmal Gast in dem Hotel, wobei ihr Besuch Folgen hatte. Strasser wird von ihr mit diesem Ereignis konfrontiert, wobei er die Vaterschaft des Kindes hartnäcktig leugnet. Grell beleuchtet wird bei dieser Inszenierung die Tatsache, dass Christine sich zuletzt aus dieser grotesken Gesellschaft befreien kann. Sie lässt die Männer einfach hinter sich, verschwindet hinter der Statue. Der verlogenen Idyllik wird hier immer wieder ein unsanfter Stoß versetzt. Sie passt sich den sozialen Verhältnissen nicht an und zerbricht deswegen auch nicht an ihnen. Ihre Flucht gelingt. Man blickt hier auch auf die Jahre 1926/27, wo große Unsicherheiten und Identitätskrisen überhand nahmen. Der erste Weltkrieg hatte bei den Menschen tiefe Spuren hinterlassen. Gestrandete Existenzen aus Bourgeoise und Proletariat treffen dabei hart aufeinander. Felix Strobel mimt den scheiternden Strasser überzeugend, der Christine wenig entgegensetzen kann. Simon Löcker als Max (der sogar in Portugal korrupte Charaktere wittert) und Tim Bülow als Karl verwickeln sich in Widersprüche, die platisch verdeutlicht werden. Gabor Biedermann als Geschäftsmann Müller fungiert auf Geheiß der Freifrau von Stetten zuletzt tatsächlich als „Generaldirektor“. Und Klaus Rodewald bietet als buckliger Emanuel, Freiherr von Stetten, und Adas Bruder eine packende Charakterstudie.
Tim Bülöw, Therese Dörrr, Gabor Biedermann. Foto: Julian Baumann
Die Musik von Cornelia Pazmandi unterstreicht die triste Stimmung im Hotel passend. Christine könnte als typische Horvath’sche Fräuleinfigur in dieser Aufführung zuweilen noch etwas heftiger gegen die bestehenden Verhältnisse protestieren. Doch Laura Balzer lässt den verbitterten Trotz dieser jungen Frau trotzdem stark zum Vorschein kommen. Fünf Männer und eine alte Frau tun sich hier zusammen, um eine junge Frau zu zerstören, moralisch, juristisch und finanziell. Die Männer wollen die geforderten Alimente für das Kind nicht bezahlen. Sie erklären offentlich, ihrerseits mit ihr geschlafen zu haben, wodurch Christine zur Hure wird. Alimente sind dann überflüssig. Die Tricks und Kniffe des Unterhaltungstheaters lässt Christina Tscharyiski als Regisseurin trotz mancher Abstriche recht rasant Revue passieren. Christine kann zu ihrem Geliebten, der sie enttäuscht hat, nur noch sagen: „Nicht so, nicht so sein – nicht du so sein...“ Da tun sich zwischen den Figuren plötzlich unüberwindbare Mauern auf. Sture Väter und alte Lüstlinge werden lächerlich gemacht und entlarvt. Klar wird zudem, dass Christine Strasser als einzigen dieser seltsamen Männer wirklich liebt. Doch der begreift nichts: „Du! Du wolltest als Bettelkind befreit werden, du Kitsch!“ Manche Fragen bleiben bei dieser Inszenierung trotzdem offen. Vielleicht wird auch zu wenig deutlich, dass es sich eigentlich um ein Nachkriegsstück handelt. Doch die Beziehungen der einzelnen Personen untereinander werden präzis durchleuchtet. Eine verkommene Gesellschaft wird plastisch seziert und sarkastisch aufs Korn genommen. Als Strasser Christine zuletzt mahnt, dass sie den Zug versäumen würde, antwortet sie nur noch lakonisch: „Nein. – Nein. Nein, ich werde nichts versäumen.“
Freundlicher Schlussapplaus und kein Widerspruch im Publikum.
Alexander Walther