Paula Skorupa (Marie), Sylvana Krappatsch (Marie). Foto: Julian Baumann
Georg Büchners „Woyzeck“ am 13.2.2020 im Schauspielhaus/STUTTGART
AUS WEIBLICHER SICHT
In der Inszenierung von Zino Wey wird hier eine ungewöhnliche Sichtweise geboten, denn Woyzeck wird von einer Frau gespielt. Dadurch verschieben sich die Verhältnisse in diesem Drama ganz fundamental.
Woyzeck ist zwar auch hier der einfache Soldat und die naive Natur, aber er wirkt irgendwie zerbrechlicher, wobei er sich kurzerhand für ein paar Groschen der Wissenschaft hingibt und seinen Körper für medizinische Zwecke zur Verfügung stellt. Es bleibt zuletzt so gut wie nichts mehr von ihm übrig. Im Existenzkampf gegen eine skrupellose und verkommene, gottlose Gesellschaft wird er völlig aufgerieben: „Der Platz ist verflucht…“ Woyzeck hat nie eine Chance gehabt. Er kann seine Zerstörung nicht aufhalten. Als seine Geliebte, Marie, dem tanzenden Tambourmajor verfällt, dreht Woyzeck durch und tötet Marie. Diese Szene auf offener Bühne hinterlässt eine erschütternde Wirkung. Denn Sylvana Krappatsch geht als Woyzeck ganz in ihrer Rolle auf. Paula Skorupa gibt ihr als Marie immer wieder in eindringlicher Weise Widerpart. Doktor und Hauptmann (eindringlich: Sven Prietz und Matthias Leja) scheinen sich in einem großen Spinnennetz zu verfangen.
Die Szenerie funkelt und glitzert, doch Woyzecks grenzenlose Verzweiflung lässt sich nicht verbergen. Manchmal meint der Zuschauer, dass es Sterne vom Himmel regnet. Das ist ganz in Büchners Sinn, denn er konnte dieses Werk aufgrund seines frühen Todes nicht mehr vollenden. Woyzeck weist Andres (markant: Valentin Richter) auf die unheimliche Stille hin: „Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen.“ Die Jahrmarktszene wirkt wie der Ausschnitt aus einer skurrilen Karnevalsveranstaltung. Da werden dann sogar Raketen in die Luft geschossen. Als der Hauptmann Woyzeck vorwirft, dass dieser „keine Moral“ habe, weil er der Vater eines unehelichen Kindes sei, widerspricht Woyzeck dem Hauptmann mit einem Bibelzitat. Überhaupt macht Sylvana Krappatsch als Woyzeck deutlich, dass sie sich diese verzwickte Situation nicht mehr gefallen lassen will. Sie wehrt sich buchstäblich mit Händen und Füßen, zittert am ganzen Leib. Das sind starke Szenen, die Zino Wey gut gelungen sind. Als der Tambourmajor und Marie Woyzeck betrügen, taumelt dieser wie besinnungslos über die Bühne.
Die Welt ist hier wirklich aus den Fugen geraten, es brennt an allen Ecken und Enden. Marie und der von Sebastian Röhrle fast brutal gemimte Tambourmajor verfallen einander als „Weib“ und „Mann“. Marie nimmt auf Woyzeck keine Rücksicht mehr. Als Marie schließlich von Woyzeck zur Rede gestellt wird, scheint die Erde zu beben. Er erregt sich über Maries „Todsünde“, will sie dafür drastisch bestrafen. Im dunkel gehaltenen Bühnenbild von Davy van Gerven kommen sich die Protagonisten manchmal ganz nah, doch es gibt hier auch immer wieder eine geheimnisvolle Distanz zwischen ihnen. Marie zeigt Woyzeck beim Betrug mit dem Tambourmajor seine körperlich-sexuelle und sozial-materielle Unzulänglichkeit. Die Intensität dieses grausamen psychologischen Prozesses steigert sich noch im Laufe der Inszenierung.
Die leise und geheimnisvolle Musik von Max Kühn beschreibt passend diese unheimliche Atmosphäre, die auch immer wieder fast explosiv wirkt. Die „offene Wunde“ dieses radikalen Stücks bricht auch visuell ganz offen zutage, als Woyzeck dem schwer verletzten Hauptmann das Bein verbindet. Die Natur des Wassers, des Himmels und die gespenstischen Geräusche bis zum roten Mond verbinden sich zu einem Kosmos unterschiedlichster sinnlicher Erfahrungen, auf den die Schauspielerinnen und Schauspieler in bewegender Weise reagieren. Dazu gehören auch der von Robert Rozic facettenreich gestaltete Idiot und Gabriele Hintermaier als fulminante Margreth.
Die Kostüme von Veronika Schneider passen sich dieser fahl wirkenden Aura an. Sylvana Krappatsch geht bei ihrer subtilen Verkörperung des „Woyzeck“ intensiv der Frage nach, wer er eigentlich ist. Interessant ist auch, dass bei dieser Inszenierung durchaus zum Vorschein kommt, dass Marie und Woyzeck mit der Bibel vertraut sind: „Heiland, Heiland ich möchte dir die Füße salben.“ Woyzeck ist das Opfer des Tambourmajors, der ihm auch körperlich überlegen ist. Als besserwisserischer Doktor macht Sven Prietz glaubwürdig deutlich, dass er nur wichtigtuerisch schwadronieren möchte und an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen eigentlich nicht interessiert ist. Der gequälte Aufschrei einer geschundenen Kreatur kommt bei dieser Inszenierung jedenfalls grell zum Vorschein. Dazu gehören ebenso die expressionistischen Akzente. Und die karikaturistisch bis sarkastisch gestaltete Umwelt kommt nicht zu kurz, könnte gelegentlich sogar noch schärfer und pointierter dargestellt werden. Die Kinderstatisterie ist mit Chelsea Flad, Ruben Kirchhauser, Amadeus Lerch, Felicitas Lerch, Yann Levitin, Frederik Roswag, Clara Schwind, Marlene Schwind, Paul Thurner und Emil Hugo Wipfler sehr gut besetzt. Als Idiot kommt Robert Rozic im Glitzerkostüm daher und sorgt für revuehafte Momente, die Gabriele Hintermaier als Margreth noch unterstreicht. So sieht man sie sogar auf einem riesigen Pferd sitzen, aus dessen unterem „Kleid“ zuletzt die bunt gewandeten Statisten hervorschlüpfen. Ein fast surrealistisches Bild. Büchners wilder Text lebt in diesen Szenen leuchtkräftig auf. Gedichte, Sprüche, Kinderlieder, Volkslieder, Reime, Bibelzitate und Märchen wirbeln durcheinander. Da gibt es keine Atempause. Sylvana Krappatsch lässt als Woyzeck zudem deutlich werden, dass dieser den Würge-Mord an Marie nicht als Befreiung empfindet, denn er fühlt sich unfreiwillig gezwungen, Marie zu töten. Woyzeck ist hier ein „unglücklicher Mörder“. Im Augenblick der Tat möchte er „den Himmel geben“, um die Lippen Maries „noch einmal zu küssen“. Die absurde Erbsendiät des sadistischen Doktors wird für Woyzeck zur zusätzlichen Demütigung. Sylvana Krappatsch möchte als Woyzeck zum Schluss die ganze Welt anschreien, das Universum herausfordern. Die Ungeheuerlichkeit von Büchners revolutionärer Dichtung sticht aufblitzend hervor. Beim Publikum kam dieser Abend gut an. Es gab begeisterten Schlussapplaus.
Alexander Walther