Peer Oscar Musinowski, Therese Dörr, Elmar Roloff, Klaus Rodewald. Foto: David Baltzer
Premiere „Weltwärts“ von Noah Haidle am 29. 2. 2020 im Schauspielhaus/STUTTGART
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Es ist eine nachdenkliche Inszenierung von Burkhard C. Kosminski, die sich dem Stück „Weltwärts“ von Noah Haidle annimmt, der 1978 in Michigan geboren wurde. 2012 wurde sein erstes Drehbuch „Stand Up Guys“ mit Al Pacino und Christopher Walken verfilmt. Im weiträumigen, kreisförmigen Bühnenbild von Florian Etti (Kostüme: Lydia Kirchleitner) werden die letzten Fragen ziemlich unverblümt und schonungslos gestellt. Die von Therese Dörr mit vielen Nuancen gespielte 36jährige Anna ist unheilbar krank und hat sich entschlossen, ihren Suizid selbst zu planen – und zwar im engen Kreis ihrer Familie. Das Abschiedsfest wird dann allerdings zu einem entlarvenden psychologischen Kammerspiel, das die unterschiedlichen Charaktere der Protagonisten aufeinanderprallen lässt. Anke Schubert mimt Annas relativ gefasste Mutter Dorothy, die diese seltsame Seelenwanderungsfeier organisiert hat. Hier werden psychische Abgründe allerdings ebenfalls glaubwürdig dargestellt, denn es bereitet der als Hebamme tätigen Mutter letztendlich doch große Probleme, ihre lebensmüde Tochter auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Da kommt es zwischen den beiden Frauen zu berührenden Szenen. Elmar Roloff mimt brillant den im „Hare Krishna“-Kostüm auftretenden Zahnarzt Onkel Buddy, der als Amateurschauspieler reüssiert und die ganze Handlung erheblich durcheinanderbringt. Aber er sorgt auch dafür, dass in dieses an und für sich tragische Geschehen sogar eine Brise Humor kommt. Onkel Buddy stellt die Medikamente bereit und unterschreibt den Totenschein. Er ist sich jedoch auch bewusst, dass sein Handeln dem „Hippokratischen Eid“ der Ärzte zuwiderläuft: „Dann nehme ich meine Theaterbegabung mit in die Haftanstalt!“ Rebekka Roller spielt sehr überzeugend und mit erstaunlicher Reife die kleine Rose, die nach den perfekten letzten Worten für ihre unglückliche Mutter sucht. Josephine Köhler verkörpert sehr temperamentvoll Baby, die gegen das an und für sich grausame Geschehen aufbegehrt und als Annas Zwillingsschwester die Welt nicht mehr versteht. Diese Tatsache demonstriert sie ebenfalls überzeugend in explosiven Gesangseinlagen. Als ihre Mutter Dorothy ihr offenbart „Wir assistieren beim Suizid deiner Schwester“, verliert Baby die Fassung.
Zwischen dem von Gabor Biedermann einfühlsam dargestellten Geigenlehrer Louis und Anna entwickelt sich eine Beziehung: „Ich liebe dich“. Aber auch er kann ihren unausweichlichen Suizid nicht aufhalten und stellt dann später fest, dass er an einem Gehirntumor leidet. Peer Oscar Musinowski stellt facettenreich Officer Owen dar, der die gesamte Familie zunächst verhaften will und sich dann doch anders entscheidet. Kevin (mit vielen Nuancen: Klaus Rodewald) wird als aufbegehrender „Zaungast“ der Familie von Officer Owen regelrecht verprügelt. Er sitzt zunächst im Publikum und wird dann nicht nur vom Officer auf die Bühne gerufen.
Burkhard C. Kosminski hat sich in seiner gelungenen und mutigen Inszenierung dem offensiven Umgang mit dem Sterben und dem schwierigen Thema „Sterbehilfe“ in leidenschaftlicher Weise angenommen. Und man spürt, dass seine Schauspieler hier ganz bei der Sache sind. Da gibt es keine Langeweile, keine Pausen und Leerstellen. Gelegentlich treten zwar kleinere Schwächen in der szenischen Dichte zutage, doch der Zuschauer wird mit einem starken Schluss bei dieser Inszenierung mehr als entschädigt. Da dreht sich dann die grasgrüne Bühne – und zwischen der tristen Ausstattung von weißen Stühlen und einem ebensolchen Tisch entschließt sich Anna endgütig, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Da tun sich dann eindrucksvolle Bilder auf, die kreisrunde Scheibe auf der Bühne dreht und verändert sich in geheimnisvoller Weise – und man spürt, wie Anna zwischen Licht und Schatten ganz allmählich ins Jenseits hinübertritt. Doch selbst hier hat man die Vermutung: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Am Ende stehen alle Darsteller an der Rampe und lassen ihr Leben Revue passieren – der Zuschauer darf dann mit ihnen zusammen auch einen unmittelbaren Blick in die Zukunft wagen. Sie erzählen, wie alt sie werden. Die suggestive Musik von Hans Platzgumer und die Video-Sequenzen von Sebastian Pircher („impulskontrolle“) tragen entscheidend zum Gelingen der Inszenierung bei. Beim Publikum kam dieser ungewöhnliche Abend glänzend an, die Begeisterung und der Applaus waren groß.
Alexander Walther