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STUTTGART/ Schauspielhaus: „VÖGEL“ von Wajdi Mouawad. Premiere

Landschaft aus Ruinenfeld

16.11.2018 | Theater

 


Silke Bodenbender, Itay Tiran. Copyright: Matthias Horn

Premiere „Vögel“ von Wajdi Mouawad am 16. November 2018 im Schauspielhaus/STUTTGART

LANDSCHAFT ALS RUINENFELD

Burkhard C. Kosminski hat hier im kargen Bühnenbild von Florian Etti und den schlichten Kostümen von Ute Lindenberg eine Geschichte erzählt, die den Zuschauer unmittelbar berührt und die unter die Haut geht. Als Thriller und modernes Märchen kommt die Handlung daher, bei der der Nahostkonflikt im Mittelpunkt steht. Ihren Ursprung hat diese Geschichte in der Vita des Weltenwanderers Muhammad al-Wazzan, genannt Leo Africanus, der im 16. Jahrhundert gezwungen wurde, zum Christentum zu konvertieren.

Gewalt und familiäre Konflikte stehen im Zentrum des Geschehens. Diese entscheidenden Wandlungsprozesse der Protagonisten hat der Regisseur subtil herausgearbeitet, so bleibt viel Raum für elektrisierende Begegnungen. Im Lesesaal einer New Yorker Universitätsbibliothek verliebt sich der junge Biogenetiker Eitan aus Berlin in das arabische Mädchen Wahida, die an ihrer Doktorarbeit schreibt. Amina Merai als Wahida und Martin Bruchmann als Eitan zeigen hier den Prozess einer bewegenden menschlichen Annäherung in psychologisch glaubwürdiger Weise. Doch der Konflikt in Eitans Familie eskaliert: „Meine Eltern haben uns verschwiegen, dass sie Juden sind.“ Als Eitan seinen Eltern und seinem Großvater, einem Überlebenden der Shoah, seine neue Freundin vorstellt, kommt es zum Skandal. Als Araberin ist Wahida für Eitans Vater David nicht akzeptabel. Sie wird sogar als „Nutte“ beschimpft. Die Auseinandersetzungen zwischen den Personen verfolgt Burkhard C. Kosminski mit nie nachlassender Intensität, die den Zuschauer betroffen zurücklässt. Und Eitan möchte für das Leid seiner Vorfahren keine Verantwortung tragen. Der junge Mann wird schließlich bei einem Attentat verletzt und landet im Krankenhaus. Aber er überlebt seine schweren Verletzungen.

Eine entscheidende Wende bringt dann Eitans Reise mit Wahida nach Israel. Wahida begreift hier zum ersten Mal ihre arabische Identität. Die junge Frau hat die Probleme des Krieges hautnah mitbekommen – bis hin zur lesbischen Annäherung der Soldatin Eden (stark: Maya Gorkin), die sie vergeblich abzuwehren versucht. Hinter der Leinwand gelingt Burkhard C. Kosminski hier ein packendes Psychogramm. Von seiner Großmutter Leah (überzeugend: Evgenia Dodina) wird dann das entscheidende Familiengeheimnis schonungslos gelüftet. Die persische Legende vom Amphibienvogel lässt sich dabei irgendwie auf die Menschen übertragen. Einzelne szenische Stationen werden dabei zur Reise mit verschiedenen Vogelarten. Eitans Vater David ist eigentlich ein palästinensisches Kind, das von seinem jüdischen Ziehvater Etgar (überaus eindringlich: Dov Glickman) in einem Korb gestohlen wurde: „Ein palästinensisches Kind zu stehlen ist Wahnsinn!“ Itay Tiran hat daraufhin als Eitans zunächst cholerischer und zorniger Vater David („Du spuckst mir ins Gesicht!„) einen großen Auftritt. Denn sein Zorn verwandelt sich plötzlich in eine beängstigende Euphorie, die zur Psychose wird. Natürlich hat er auch unter seiner ungeklärten Situation gelitten. Er steigert sich so sehr in das Problem hinein, dass er schließlich einen Schlaganfall erleidet. Auch die herbeieilende Ärztin (nuancenreich: Hagar Admoni-Schipper) kann ihm nicht mehr helfen. David stirbt. Silke Bodenbender spielt Eitans Mutter und Davids Frau Norah mit Verzweiflungsausbrüchen, die nicht aufgesetzt wirken.


Martin Bruchmann, Itay Tiran, Evgenia Dodina, Dov Glickman. Copyright: Matthias Horn

Im Jenseits begegnet David dann dem mysteriösen Weltenwanderer Al-Hasan-al-Wazzan, dem Ali Jabor eine beeindruckende Statur verleiht. Das statische, von weißen Leinwänden beherrschte Bühnenbild dunkelt sich bei dieser Szene merklich ab, im Hintergrund sieht man arabische Schriftzüge. Das sind bei dieser Inszenierung überhaupt die stärksten Szenen. Die Musik von Hans Platzgumer (Übertitel: Anna Kasten) verstärkt noch die betont arabische Aura. Die Kellner sind mit Studierenden der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart passend besetzt: Fathi Kösoglu und Eduard Zhukov. Hinzu kommt noch die Statisterie, die Kosminski aber nie herumstehen lässt. Alles ist szenisch in geradezu fließender Bewegung. Am Ende wird die Landschaft wirklich zu einem Ruinenfeld, in dem die Figuren aber alles tun, um sich weiter zu lieben. Spirituelle Gedanken sollen aber nicht im Zentrum des Geschehens stehen, was Burkhard C. Kosminski auch überzeugend herausarbeitet.

Hinzu kommt, dass bei der Aufführung nicht nur in deutscher, sondern auch in hebräischer, englischer und arabischer Sprache mit Herzblut gespielt wird. Der Weltenkosmos beflügelt die Handlungsebene in bemerkenswerter Weise. Gerade bei der Szene mit dem sterbenden David ist dies der Fall. Da stehen die anderen Darsteller plötzlich bewegungslos da, bleiben wie fassungslos auf der Erde zurück, während sich die Sphären des Weltalls öffnen. Zuweilen hätte man sich gewünscht, dass der Übergang der einzelnen Szenen noch fließender und reibungsloser verläuft. Doch insgesamt gelingt es Burkhard C. Kosminski sehr gut, die inneren Zusammenhänge der geheimnisvollen Handlung offenzulegen. Die israelisch-palästinensische Tragödie wird so in ein grelles Licht getaucht. Das ist selbst bei der Drehbühne der Fall, die die Personen am Esstisch in immer anderen, zuweilen schrägen Konstellationen zeigt. Entscheidend ist hier letztendlich die Aussage, dass Juden und Araber gleich sind. Die Personen werden mit den Leiden der Vergangenheit vergiftet. Man vergisst zwischen Klängen, Licht und Raum sogar die Sprache. Eitan bleibt zuletzt ratlos, verzweifelt und allein zurück: „Ich werde keinen Frieden finden!

Jubel und Begeisterung für das gesamte Team.        

Alexander Walther

 

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