Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

STUTTGART/ Schauspielhaus: VERBRENNUNGEN von Wajdi Mouawad. Ratlos in der Familie

06.02.2022 | Theater

Premiere „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad im Schauspielhaus am 5. Februar/STUTTGART  

Ratlos in der Familie

dodi
Salwa Nakkara, Evgenia Dodina. Foto: T

 Burkhard C. Kosminski hat für seine Inszenierung dieses vielschichtigen Dramas eine schlichte Aura geschaffen (Bühne: Floria Etti; Kostüme: Ute Lindenberg), bei der weiße Tücher und wenig Utensilien in besonderer Weise auffallen. Gleich zu Beginn sieht man drei Stühle, die vergangene Zeiten symbolisieren.

In diesem Stück ist eine Mutter plötzlich vollkommen verstummt. Fünf Jahre bis zu ihrem Tod spricht Nawal nichts mehr. Bei der Testamentseröffnung erhalten ihre beiden Kinder zwei verschlossene Briefe. Der eine ist ein Schreiben an ihren älteren Bruder, der andere ist an ihren totgeglaubten Vater adressiert. Die Tragödie des Krieges steht auf einmal im Mittelpunkt des Geschehens, man sieht diese erschütternden Kriegsereignisse auch in Videaufnahmen von Yoav Cohen. Die Musik von Hans Platzgumer unterstreicht suggestiv das alptraumhafte Geschehen. Äußere Ereignisse beeinflussen hier das psychische Innenleben dieser Menschen. Die Kinder finden schließlich heraus, wer ihre Mutter wirklich war und welches Geheimnis sie mit sich herumschleppte.

Als Vergewaltigungsopfer waren ihre Gefühle blockiert. Die Problematik dieser Familiensaga wird von Burkhard C. Kosminski in ihrem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang trotz mancher Längen überzeugend herausgearbeitet. Evgenia Dodina als Mutter Nawal sowie Paula Skorupa als Johanna und Elias Krischke als Simon lassen diese Reise in die Vergangenheit in packender Weise Revue passieren. Johanna entschließt sich, der Sache alleine auf den Grund zu gehen. Die Stationen sind zunächst Israel, dann der Libanon.  Nach vielen Telefonaten macht sich auch Simon auf die Suche, der nach einem schmerzlichen Erkenntnisprozess allmählich eine andere Sichtweise auf die Mutter gewinnt. Zunächst lehnt er sie ab: „Sie war nicht meine Mutter. Sie hatte kein Herz.“ Johanna lehrt als Dozentin auch Mathematik, auf der Bühne sieht man mathematische Formeln, die aber allesamt keine Antwort auf diese Familientragödie geben.  „Ihre Mutter wünscht, dass Sie den Vater finden“, meint der Notar. „Es kann also sein, dass mein Vater lebt“, stellt Johanna schließlich fest. Evgenia Dodina gelingt es  als Mutter eindringlich, die psychologische Katastrophe des Krieges in das Seelenleben dieser Frau zu integrieren. Sie erlebt dabei ihre eigene Geschichte nochmals: Ihre Liebe zu Wahab, einem palästinensischen Flüchtlingsjungen, von dem sie mit fünfzehn Jahren schwanger wird, die Geburt ihres Kindes und das Verlassen des Dorfes. Da sie ihr Kind verloren hat, ist sie permanent auf der Suche nach ihm und durchleidet die Wirren des Krieges. In verschiedenen Zeitebenen läuft das Stück dramaturgisch ab. Die vier Sprachen Englisch, Hebräisch, Arabisch und Deutsch ergänzen sich dabei gegenseitig. Für den Autor kann das Fiktionale mehr Wahrheit enthalten als die Realität. Das unterstreicht auch Burkhard C. Kosminskis Inszenierung. Es kommt immer wieder zu bewegenden und berührenden Bildern, wo die Kinder ihrer Mutter im Regen näher zu kommen scheinen. Doch letzte Fragen werden nicht beanwortet. Die Ratlosigkeit dieser Familie rückt grell in den Mittelpunkt. In weiteren Rollen überzeugen Matthias Leja als Hermann, Felix Strobel als Anton, Salwa Nakkara als Sawda, Martin Bruchmann als Nihad/Soldat, Noah Baraa Meskina als Wahab/Abdessamad, Lilian Barreto als Jihane, Ärztin, Malak, Christiane Roßbach als Hausmeisterin, Fremdenführerin und Michael Stiller als Chamseddine, Ralph.

Das Geschehen wird letztendlich von den Flüchtlingen beherrscht, die alles mitgenommen haben. Johanna belehrt ihren Bruder: „Wir sind uns nichts schuldig“. Über die Mutter gewinnen sie eine neue Sichtweise: „Sie wurde…vergewaltigt. Sie wurde schwanger und bekam das Kind. Sie wurde vergewaltigt und gefoltert.“ Für den Täter waren alle Frauen Nutten. Aber gleichzeitig kümmern sie sich nicht darum, diese Geschichte interessiert sie nicht. Sie wollen einfach nur vergessen. Die Mutter versucht verzweifelt, ihre Versprechen zu halten und ihre Kinder immer zu lieben. Wahrheit und Lüge stehen hier dicht beieinander und quälen Nawal. Sie darf ihren Kindern die Wahrheit nicht selbst mitteilen. Das Regenwasser soll in dieser Inszenierung symbolisch die seelischen „Verbrennungen“ löschen. Nawal ist gleichzeitig eine neu erfundene Mutter des Ödipus. Trotz des Schocks möchte sie das Familienbild vervollständigen. Da sie die Wahrheit über ihr Leben erfährt, führt jedes Wort in die Irre. Sie muss schweigen. 

Alexander Walther

 

Diese Seite drucken