„Tote Seelen“ im Schauspielhaus Stuttgart AUS DEM NICHTS GEWINN SCHLAGEN
„Tote Seelen“ von Nikolai Gogol im Schauspielhaus am 15. Juni 2016/STUTTGART
Wolfgang Michalek. Copyright: Bettina Stoess
Ganz auf den hervorragenden Hauptdarsteller Wolfgang Michalek zugeschnitten ist dieses Schauspiel nach dem Roman von Nikolai Gogol, der hier virtuos und hintersinnig die Geschichte des Kollegienrats Pawel Iwanowitsch Tschitschikow erzählt, der es durch geschmeidige Umgangsformen bis zum Abteilungsleiter bringt.
Sebastian Baumgartens Regie macht deutlich, dass sich dieser Tschitschikow einen Teufel darum schert, die behördliche Korruption zu bekämpfen. Statt dessen hat er eine neue Geschäftsidee entwickelt, die mit Hilfe verschwiegener Geschäftspartner praktiziert wird. Im damaligen Russland wurden nämlich verstorbene Leibeigene als „Seelen“ bis zur nächsten Revision nicht aus den Listen gestrichen und damit mussten die Besitzer weiter Steuern auf sie entrichten. Das Bühnenbild von Thilo Reuther zeigt einen riesigen Totenschädel mit grotesker Brille, deren Innenraum von Jalousien bedeckt ist, die immer wieder hochgezogen werden und die Sicht auf verschiedene Personen freigeben. Die Bühne dreht sich übrigens unaufhörlich und zeigt das gesamte Ensemble in den unterschiedlichsten Szenen – immer im Bann der „toten Seelen“. Man nimmt wahr, wie geschickt der raffiniert agierende Tschitschikow den Verkauf dieser „toten Seelen“ beglaubigt. Sie werden plötzlich zu seiner unerschöpflichen Einnahmequelle. Er nutzt das System geschickt aus, bis er dem von Christian Czeremnych wandlungsfähig gemimten Polizisten in die Hände fällt, der ihm Schwierigkeiten macht. Das moderne Wirtschaftssystem mit seinen virtuellen Zahlen wird von Sebastian Baumgarten facettenreich persifliert. Alles gerät aus den Fugen. Und der grandios agierende Wolfgang Michalek ist als Tschitschikow ständig auf der Flucht, hetzt von Ort zu Ort, um immer mehr an sich selbst und seiner Umgebung zu verzweifeln. Das ist packend inszeniert. Mit viel Witz wird zudem gezeigt, wie eifrig Tschitschikow den eitlen Gutsbesitzern „tote Seelen“ abschwatzt. Hanna Plaß als Gutsbesitzer Manilow, Paul Grill als Gutsbesitzer Sobakewitsch und Christian Czeremnych als seine Frau Feodulija, Johann Jürgens als Gutsbesitzer Nosdrjow, Horst Kotterba als Gutsbesitzerin Korobotschka und Svenja Liesau als Gutsbesitzer Pljuschkin sowie als Manilows Frau Lisanka bilden ein wildes Gespann, das aber trotz aller Hemdsärmeligkeit nicht nur auf Tschitschikow hereinfällt, sondern diesem auch gehörig zusetzt. Weibliche und männliche Elemente werden hier sarkastisch auf den Kopf gestellt. Tschitschikows Jugendfreund Nosdrjow gibt diesem einen seltsamen Todeskuss. Dieser weiß irgendwann nicht mehr, wo oben und unten ist. In der Gutsbesitzer-Behausung sieht man plötzlich auch ein Porträt Wladimir Putins. Wolfgang Michalek macht plausibel klar, dass er das Geld braucht, um sich dereinst ein kleines Gut im Süden Russlands anzuschaffen. Mit seinem stinkenden Diener reist er durch das gigantische russische Reich – die Leute erliegen seinen seltsamen Blenderqualitäten. Polizei- und Postmeister sowie Anwälte und Gerichtsdiener umschwirren ihn in dieser Inszenierung wie lästige Insekten, denen er nicht mehr Herr wird. Die Lederkostüme unterstreichen streckenweise grell eine obskure Sado-Maso-Welt, die Tschitschikow stark irritiert. Aus dem Off hört man wiederholt Publikumsgelächter und Applaus, zwischen Gewittersequenzen und parodistischen Slapstick-Passagen wird Tschitschikow gnadenlos veräppelt und regelrecht für dumm verkauft. Er kann sich zeitweise nur mühsam behaupten, um dann immer wieder erneut vorgeführt zu werden. Zuweilen sind es Bilder aus der Hölle, die an Auschwitz und den Archipel Gulag erinnern. Man sieht bei diesen schrecklichen Kriegsszenen Gehenkte und halb verweste Tote, die dem Protagonisten große Seelenqualen bereiten. Das sind die stärksten Bilder dieser Inszenierung. Auf der anderen Seite werden dann die Rechnungen mit den Seelen buchhalterisch und makaber aufgelistet. Das lässt auch an die Judenvernichtung und Auschwitz denken. Überhaupt werden durchaus Parallelen zur Nazizeit sowie der Stalin-Diktatur deutlich.
Der Regisseur Sebastian Baumgarten überspringt mit Hilfe der Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes immer wieder zeitliche Grenzen (Video: Hannah Dörr). Die Musik von Jörg Follert unterstreicht diese Intention zusätzlich. Einmal erklingen sogar einige Takte aus Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“. Tschitschikow stülpt sich selbst eine Nase über, der Polizeimeister (Christian Czeremnych) beobachtet ihn argwöhnisch. Wie ein gehetztes Tier jagt der Protagonist von einem Ort zum anderen, man merkt, dass stellenweise auch der Autor Gogol gemeint sein könnte, der aufgrund einer Nahrungsverweigerung 1852 unter großen Qualen starb. Er konnte das Manuskript des Romans „Tote Seelen“ nicht mehr vollenden, das er in Wahnsinnsanfällen stellenweise selbst verbrannte. Michael Stiller spielt glaubwürdig den Gouverneur, der ebenfalls auf Tschitschikow hereinfällt. Svenja Liesau als seine Tochter ist ganz schwarz gekleidet, kann Tschitschikow zeitweise sogar umgarnen. Paul Grill als ruppiger Gastwirt, Svenja Liesau als angenehme Dame und Hanna Plaß als in jeder Beziehung angenehme Dame liefern sich zuletzt ein virtuoses Wortgefecht um die Gunst der Stunde. Horst Kotterba gibt außerdem einen lautstarken Hauptmann Kopejkin, der aber trotzdem hintersinnig wirkt. Man spürt als Zuschauer bei dieser weitgehend überzeugenden Inszenierung, dass die „toten Seelen“ von den handelnden Personen in fast schon dämonischer Weise Besitz ergriffen haben. Und es besteht immer die Gefahr, dass sie sich rächen werden.
Tschitschikow wird zum Schluss begnadigt, er kommt davon und verschwindet einfach im Nichts. Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren im Schauspielhaus mit einer gelungenen Mischung aus Ekel und Ekstase, die „russische Seele“ zeigt sich zuweilen aber auch mit melancholischer Intensität. Die ganze Gesellschaft scheint zuletzt im Gefängnis zu landen, stellenweise werden Erinneungen an Dantes „Göttliche Komödie“ wach. Zwischen den Gitterstäben schieben sich gekrümmte und geknechtete Existenzen durch, die den Glauben an sich selbst schon verloren haben. Dostojewski bleibt hier immer spürbar – und dies nicht nur bei der Erwähnung des „Großinquisitors“. Die Handlung ist (um mit Alexander Puschkin zu sprechen) tatsächlich „aus der Seele hervorgeholt“. Die Spießeridylle wird bei der Inszenierung von Sebastian Baumgarten immer wieder brutal unterbrochen. „Keiner meiner Leser wusste, dass er, wenn er über meine Helden lachte, über mich lachte“, sagte Nikolai Gogol einmal – und dies trifft besonders auf diese Aufführung zu, die die Welt wirklich auf den Kopf stellt. Bohrende Fragen werden ganz bewusst nicht beantwortet. Sie lassen den Zuschauer mit seinen Zweifeln allein.
Alexander Walther