Premiere „Schuld und Sühne“ von Dostojewskij am 18.6.2022 im Schauspielhaus/STUTTGART
Die Christusfigur dominiert
Die Inszenierung von Oliver Frljic stellt die von Armut geprägten Straßen von St. Petersburg deutlich in den Mittelpunkt des Geschehens. Hier versucht sich der hochintelligente, aber mittellose Jurastudent Raskolnikow zu behaupten, der von David Müller als gespaltene Persönlichkeit verkörpert wird. Im Bewusstsein seiner eigenen Überlegenheit tötet er eine alte Pfandleiherin. Diese Figur namens Aljona Iwanowna wird von Gabriele Hintermaier mit unheimlicher Präsenz verkörpert. Nach der Tat befallen ihn große Skrupel. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Ermittlungsrichter, weltanschauliche Gefechte treten hier plötzlich in den Mittelpunkt.
Es ist die Rede von außergewöhnlichen Menschen, die sich im Gegensatz von Normalbürgern jedes Verbrechen erlauben dürfen. Hier besitzt Dostojewskij erstaunlich aktuelle Züge. Dann kommt es zur schicksalhaften Begegnung Raskolnikows mit Sonja (der unglücklichen Tochter der Marmeladows), die gezwungen ist, ihre Familie durch Prostitution zu ernähren. Paula Skorupa spielt Sonja sehr eindringlich und psychologisch glaubwürdig. Sie zieht ein großes Holzkreuz mit einer überdimensionalen Christusfigur über die Bühne, was trotz der andauernden Dunkelheit ausgeprochen eindringlich wirkt. Später wird sie die Christusfigur in einem ungeheuren Verzweiflungsakt enthaupten. Bei Raskolnikow bewirkt diese Begegnung eine bemerkenswerte innere Umkehr. Am Ende erwartet ihn eine langjährige Haft in einem sibirischen Straflager. Die Bühne von Igor Pauska zeigt alptraumhafte Sequenzen, wenn unzählige Beile als Mordwaffen von der Decke heruntergelassen werden und damit visuell den gesamten Bühnenraum beherrschen. Felix Strobel mimt den ermittelnden Staatsanwalt Porfirij Petrowitsch sehr undurchsichtig, aber markant und durchaus wortgewaltig, der den Studenten Raskolnikow gnadenlos in die Enge treibt. Eine beklemmende Szene ist zudem auch der suggestiv dargestellte Mord an der alten Pfandleiherin, der kurz vor der Pause dann fast in Zeitlupe geschieht. Eine weitere markante Rolle erhält Reinhard Mahlberg als hoffnungsloser Alkoholiker Marmeladow, dessen Familie Raskolnikow helfen will und der vor seinen Augen tödlich verunglückt.
Oliver Frljic erzählt dieses Geschehen als gespenstische Szene, wobei die historisch passenden Kostüme von Maja Mirkovic die düstere Atmosphäre noch unterstreichen. Der schwindsüchtigen Ehefrau Katerina Iwanowna Marmeladowa (ausdrucksstark: Therese Dörr) und ihrer kleinen Tochter Polenka (Elsa Kuhn, Felicitas Lerch) gibt er Geld für die Beerdigung. Gabriele Hintermaier mimt Raskolnikows Mutter zwischen Wahnsinn und Verzweiflung – und auch Celina Rongen als seine Schwester Dunja erhält in dieser Inszenierung ein packendes Profil. Sie war als Gouvernante im Hause Swidrigajlow (mit hinterhältig-undurchsichtiger Aura: Sven Prietz) den Nachstellungen ihres Dienstherrn ausgesetzt. Um ihren Ruf wieder herzustellen, stimmt sie letztendlich einer Heirat mit dem ungebliebten Hofrat Luschin (sehr wandlungsfähig: Peer Oscar Musinowski) zu. Mit Sonja hat Raskolnikow zuletzt noch eine heftige Auseinandersetzung wegen des Mordes an der alten Pfandleiherin, die für ihn „nicht besser ist als eine Laus“. Die „Gewöhnlichen“ erscheinen hier wieder als passive Masse, während nur die „Außergewöhnlichen“ die Menschheit voranbringen könnten. Gleichzeitig ist Raskolnikow dem Höllengelächter einer schwindsüchtigen Gesellschaft ausgesetzt. Auch sein von Valentin Richter emotional dargestellter Freund Rasumichin kann ihm nicht helfen.
Diese Passagen gehören überhaupt zu den besten der gesamten Inszenierung, deren einzige Schwäche die allzu dunkle Szenerie ist. Es fehlt zuweilen der auch bei Dostojewskij wichtige Aspekt von Licht und Schatten. Petersburg ist hier eindeutig eine „Stadt der Halbverrückten“ – und Raskolnikow erhält dabei kein zweites Ich wie in der Oper von Heinrich Sutermeister. Doch die Menschenseele ist hier wirklich den vielen „düsteren, wilden und eigenartigen Einflüssen“ ausgesetzt, wie Swidrigajlow bemerkt. All die dunklen Straßen, Gassen, Kneipen, Spelunken und Bordelle werden allerdings nur angedeutet. So kommt der wichtige Bewusstseinsprozess der Personen dennoch immer wieder deutlich zum Vorschein, die Atmosphäre verdichtet sich dramatisch und explosiv. Sehr viel szenische Dichte besitzt ebenso der Mord an einer wehrlosen Stute, die einer Meute von Gutsbesitzern ausgesetzt ist und während des vergeblichen Ziehens eines Wagens von diesen totgeprügelt wird. Der Regisseur überträgt diese Pferdefigur hier nämlich auf einen Menschen. Gleichzeitig sieht man die Attrappe eines lebendigen und eines toten Pferdes, was natürlich gerade in Stuttgart symbolhafte Bedeutung gewinnt. Ort und Umwelt werden dabei also durchaus zu einem geistigen Symbol. Gleichzeitig zeigt sich hier Dostojewskijs Ästhetik des transzendentalen Realismus. Das reale Geschehen wird mit großer Präzision beschrieben. Es ist eine Technik, die auch der Regisseur Oliver Frljic konsequent anwendet. Die Doppelbödigkeit des Seienden erscheint dabei in Anlehnung an E. T. A. Hoffmann. Da stehen dann plötzlich zwei Betten unmittelbar nebeneinander. Dazu passt auch die suggestive Musik von Daniel Regenberg. Einzig die nachgestellte Passage „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef wirkt irgendwie deplatziert. Jubel und „Bravo“-Rufe für das gesamte Team.
Alexander Walther