Sylvana Krappatsch (Klytämnestra), Felix Strobel Talthybios), Paula Skorupa (Kalchas), Anne Marie Lux (Elektra) und Elke Twiessemann (Kilissa). Copyright: Matthias Horn
„Orestie“ nach Aischylos am 1. Dezember 2018 im Schauspielhaus/STUTTGART „
DIE KRAFT DES ETHOS
Wie können wir je sicher sein. Egal bei welcher Entscheidung“. Diese Sätze fallen in der subtilen Bearbeitung der „Orestie“ des Aischylos durch den britischen Theaterregisseur Robert Icke. Es ist ein Fluch, der auf dieser griechischen Königsfamilie lastet. Und im Innern tobt der Krieg weiter. Klytämnestra hat ihren Mann Agamemnon mit ihrem Liebhaber Ägisth betrogen – und erschlägt ihn gerade aus diesen Gründen. Angetrieben von seiner Schwester Elektra (fesselnd: Anne-Marie Lux) wird Orest den Tod des Vaters rächen und seine Mutter und ihren Geliebten töten. Der Muttermörder Orest wird vom Gericht zuletzt allerdings freigesprochen. Ein ungewöhnliches Ende. Am Schluss des gewaltigen Konflikts spürt man, dass Aischylos das Geschehen von der irdischen Ebene in die himmlische Sphäre emporhebt. Götter und Menschen scheinen sich miteinander zu versöhnen.
Dies macht Robert Ickes Inszenierung im Bühnenbild von Hildegard Bechtler (Co-Inszenierung: Anthony Almeida) deutlich. Wichtig sind hier auch die Video-Einblendungen von Tim Reid. Sie geben den Mord-Szenen und den psychologischen Beziehungen der einzenen Figuren untereinander ein ganz neues Gewicht: „Wir müssen akzeptieren, dass unsere Eltern Menschen sind…“ Die mythische Handlung spiegelt sich in den Mauern des monumentalen Palastes wieder. Und die Protagonisten kommen nicht zur Ruhe. Der Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart eskaliert in erschütternder Weise, lässt den Menschen keinen Spielraum: „Um dieses Haus ist es nicht gut bestellt.“ Die intakte Familie bricht allmählich auseinander. Der Tisch, an dem die Familie sitzt, offenbart einen trügerischen Frieden. Dämonische Mächte ergreifen von der Handlung Besitz.
Peer Oscar Musinowski als Orest kann sich ihnen nicht entziehen. Sylvana Krappatsch als Klytämnestra will sich dem Verhängnis trotz wilder hysterischer Ausbrüche ebenfalls nicht verschließen: „Du zerstörst ja uns!“ Als Kilissa und grandiose Furie mit Maske ist Elke Twiesselmann ganz in ihrem Element: „Das Kind ist der Preis des Krieges!“ Die Zeichen stehen tatsächlich auf Krieg und die feindlichen Truppen rüsten zum Kampf. Agamemnon soll seine jüngste Tochter Iphigenie opfern, um den Krieg gegen Troja zu gewinnen. Klytämnestra ist verzweifelt – der Schmerz zerreisst ihr das Herz. Michael Stiller mimt den abgestumpften Bruder Agamemnons, Menelaos, der ihn bei seiner Tat unterstützt. Und das furchtbare Geschehen nimmt unaufhaltsam seinen Lauf. Das ist überaus spannend und atemlos inszeniert. Bei den Morden geht das Licht aus, der Raum scheint zu explodieren. Man erinnert an eine trächtige Häsin, die von zwei Adlern getötet wurde. Sie zerfetzen die Häsin, Federn wirbeln durch den Raum. Vor den traumatisierten Augen Orests spielt sich das tragische Geschehen seiner Familie ab. Die Spirale der Blutrache lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Als Agamemnon auch noch eine weitere Frau mit Namen Kassandra (höchst eindringlich: Therese Dörr) mit nach Hause bringt, sieht die Königin dies als weitere Bestätigung des großen Unrechts. Beide werden von Klytämnestra umgebracht. Matthias Leja zeigt sowohl als Agamemnon wie auch als Ägisth eine starke Bühnenpräsenz. Sylvana Krappatsch macht den langsamen Mord an Klytämnestra in packender und bewegender Weise deutlich.
Die Dialektik des gewaltigen Dramas kommt hier nicht zu kurz. Das Alternieren zwischen Jamben im Dialog und freien Rhythmen sticht in dieser modernen Adaption immer wieder grell hervor. Die Handlung wird ins Hier und Jetzt übertragen. Beweisstücke und Uhrzeiten werden wiederholt minuziös aufgezeigt. Metaphern bekommen einen tiefen Hintersinn. Die „Orestie“ wird allerdings durch eine Vorgeschichte ergänzt: Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie, um den Krieg gegen Troja zu gewinnen. Robert Icke besetzt den Chor außerdem mit Journalisten, die die Figuren zum Geschehen und ihren Taten befragen. Es ist eigentlich eine Therapiesitzung, denn zu dieser Zeit ist die Tragödie bereits passiert. Und die Erweiterung der Verse bekommt eine monströse Aura. Die Situation steht jederzeit auf der Kippe, Weltweisheit und burleske Situationen schärfen den Blick aufs Ungeheure. Doch die Kraft des Ethos siegt.
In weiteren Rollen fesseln bei dieser Aufführung Felix Strobel als Talthybios, Marietta Meguid als Ärztin, Paula Skorupa als schnellsprechender Kalchas. Die sinnliche Präsenz des hochdramatischen Geschehens arbeitet Robert Icke ausgezeichnet heraus. Die Kinderrollen sind mit Ruben Kirchhauser/Tim Grunwald (junger Orest) und Aniko Sophie Huber/Salome Sophie Roller (Iphigenie) bei den einzelnen Aufführungen ebenfalls glänzend besetzt.
Ovationen.
Alexander Walther