Premiere „Orest. Elektra. Frauen von Troja“ im Schauspielhaus Stuttgart
KNALLHARTES DRAMA ZWISCHEN MUTTER UND TOCHTER
am 20. Februar 2016/STUTTGART
Anja Schneider (Elektra), Sandra Gerling (Orest). Copyright: Conny Mirbach
Der Regisseur Stephan Kimmig rückt auf einer schrägen, runden Bühne (in deren Mitte ein riesiger Mast unheimlich emporragt) das Drama zwischen Elektra und ihrer Mutter Klytaimnestra ganz klar in den Mittelpunkt. Anja Schneider als furiose Elektra und die grandiose Astrid Meyerfeldt als von furchtbaren Wahnvorstellungen gepeinigte Klytaimnestra lassen starke Assoziationen zur gleichnamigen Oper von Richard Strauss aufkommen, denn der Text Hugo von Hofmannsthals wird immer wieder verwendet. „Kann man denn zerfallen wie ein Aas? Zerfressen von den Motten?!“ keucht Klytaimnestra atemlos. Und Elektra schleudert ihr gnadenlos entgegen: „Was bluten muss? Dein eigenes Genick!“ Es geht um den nicht verarbeiteten und vergebenen Tod ihres Vaters Agamemnon, der von ihrer Mutter und deren Liebhaber Aigisthos (facettenreich: Birgit Unterweger) im Bad erschlagen wurde. Klytaimnestra erscheint wie Lady Macbeth mit einem seltsamen Kronleuchter und fällt wiederholt auf die Knie, als ihre Tochter sie mit ihren fürchterlichen Flüchen belegt. Das sind starke Szenen bei dieser durchaus spannenden Inszenierung von Stephan Kimmig, dem das weiträumige Bühnenbild von Katja Haß entgegenkommt (Kostüme: Kathrin Plath). John von Düffel hat die antiken Tragödien des Euripides „Die Troerinnen“ und „Orestes“, Sophokles‘ „Elektra“ und Aischylos‘ „Die Totenweihe“ neu für die Bühne bearbeitet. Thematisiert wird hier in tragischer Weise die Zeit nach Mord, List und Krieg.
Ein Mensch tritt immer wieder aus dem Chor heraus. Das stellen alle Schauspielerinnen an diesem Abend hervorragend dar. Sandra Gerling mimt Orest als einen Mann, der nur Schuld auf sich laden kann, in dem er den Vatermord nicht rächt oder die eigene Mutter umbringt. Die Zerstörung des Individuums wird geradezu schmerzhaft auf die Spitze getrieben, was vor allem Astrid Meyerfeldt wieder einmal ausgezeichnet verkörpert. Der Amoklauf ist nicht mehr aufzuhalten, es brennt überall. Archaische Kräfte entfalten sich auch mit der suggestiv-magischen Musik von Michael Verhovec. Als Klytaimnestra von Orest schließlich hinter der Bühne erschlagen wird, greift der Wahnsinn in schockierender Weise um sich. Troja ist nach zehnjährigem Krieg endgültig besiegt. Die trojanischen Männer sind tot, ihre überlebenden Frauen müssen sich der Rache der Griechen beugen. Das sieht man gleich zu Beginn in einer Video-Einblendung, wo ein Kind die Griechen als Sieger bezeichnet. Der Frieden ist zuletzt weit entfernt. Geschockt erlebt man mit, wie Anja Schneider als verstörte Elektra ihren Bruder Orest antreibt, seine Mutter Klytaimnestra und deren neuen Mann Aigisthos zu töten, um den Mord am Vater zu sühnen. Sandra Gerling verkörpert die grausamen Gewissensqualen des Orest in exzellenter Weise, der seinen wie Espenlaub zitternden Körper kaum noch beherrschen kann. Qual und Pein bringt den Geschwistern hier die Rache. Die Spannung steigt bis zum Zerbersten. Alles ist explosiv. Svenja Liesau spielt Kassandra, Chrysothemis und Hermione als von gewaltigen Seelenqualen hin- und hergerissene Figuren, die der psychischen Ausnahmesituation nicht Herr werden. Gewalt erzeugt dabei immer neue Gewalt, die sich wie eine endlose Spirale dreht. Anja Schneider stellt insbesondere plastisch heraus, wie sehr Elektra von einer übermächtigen Bindung an die untergegangenen Figuren erdrückt wird. Eine gewisse Nähe zur Kundry in Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ ist spürbar.
Birgit Unterweger (Helena), Sandra Gerling (Orest). Copyright: Conny Mirbach
Sophokles hat bei dieser gelungenen Bearbeitung mit wenigen Abstrichen die deutlichsten Spuren hinterlassen. Das Tragische tritt hier als Schicksal in Erscheinung, gegen das sich der Mensch vergeblich aufzulehnen sucht. Die Schuld des Individuums wird nicht verleugnet. Vor allem die intensive Motivierung der Handlungen zeichnet Stephan Kimmig bei seiner Inszenierung intensiv nach. Er vermag den Figuren pulsierendes Leben zu geben. Aischylos bleibt hinsichtlich der starken Charakterschilderung spürbar. Trotz und Auflehnung gegen das göttliche Gebot sind stets präsent. Und bei Euripides steht unmittelbar der Mensch im Mittelpunkt. Alle diese Einzelheiten und Details hat John von Düffel in seine Bearbeitung mit einbezogen. Astrid Mayerfeldt überschreitet als mörderische Mutter stets die Grenzen der Darstellungsfähigkeit. Und die Ausstoßung Elektras wird bei Kimmigs Inszenierung nicht einmal so sehr betont. Anja Schneider vermag Leid, Hass und Jubel über die Heimkehr des Bruders in Worte mitreissender Leidenschaft zu fassen, wobei gerade diese Szene bei der Inszenierung noch steigerungsfähig ist. Denn diese große Erkennungsszene zwischen Elektra und Orest gehört zu den ergreifendsten Szenen der Theatergeschichte. „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit steh uns zur Seite! Hass soll Hass tilgen, blutige Schläge den blutigen Schlag!“ bekennt die von ihrem Rachedurst getriebene Elektra. Birgit Unterweger bietet außerdem als außer sich geratene Helena eine beachtliche schauspielerische Leistung. Dichterische Bedeutung und Schönheit der Sprache werden von den wunderbaren Schauspielerinnen bei dieser sehenswerten Inszenierung immer wieder herausgestellt. Insbesondere Birgit Unterweger formt die Vokale zu einer klanglichen Reise durch die Jahrhunderte. Insofern besitzt dieses Spiel auch eine musikalische Qualität. Astrid Meyerfeldt verkörpert außerdem Hekabe als etwas undurchsichtigere Person. Der Absturz von königlichem Mutterglück bis zur grenzenlosen Verzweiflung einer Sklavin fesselt die Zuschauer. Begeisterter Schlussapplaus.
Alexander Walther