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STUTTGART/ Schauspielhaus: ÖKOZID – Klimageschichte der Zukunft. Ist Deutschland wirklich ein „Klimaschurke“?

25.09.2021 | Theater

Premiere „Ökozid“ am 24.9.2021 im Schauspielhaus/STUTTGART

Klimageschichte der Zukunft

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Nicole Heesters, Sven Prietz, Anke Schubert, Copyright. Julian Baumann

Ist Deutschland wirklich ein „Klimaschurke“, wie die Schwedin Greta Thunberg behauptet? In der Inszenierung von Burkhard C. Kosminski steht im Modellversuch von Andres Veiel und Jutta Doberstein Deutschland am Pranger.

Eine Koalition von 31 Staaten des Globalen Südens klagt vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Bundesrepublik Deutschland. Auf der weiträumigen Bühne von Florian Etti erscheint Angela Merkel als Ex-Bundeskanzlerin in der souveränen Darstellung von Nicole Heesters. Es besteht die Hoffnung, dass ein Präzedenzurteil die Möglichkeit eröffnet, auch andere Industrienationen  zur Veranstwortung zu ziehen. Ute Lindenbergs spartanische Kostüme untersteichen dieses merkwürdige Ambiente.

Auch im Jahr 2021 gibt es einen Wettlauf gegen die Zeit, der den Zuschauer in dieser Inszenierung in atemloser Weise mitreisst. Man sieht in den Videosequenzen auch Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der der Ladung vor Gericht nicht Folge geleistet hat. Man will sogar einen Haftbefehl gegen ihn ausstellen lassen. Die Klimageschichte der kommenden Jahrhunderte wird hier thematisiert. Man erfährt, dass Millionen Menschen auf der Flucht sind: „Die Zeit der Verhandlungen ist vorbei“. Als Gastrednerin ist zunächst die seit 2018 amtierende Bürgermeisterin von Freetown, Yvonne Aki-Sawyerr, aufgetreten, die einen eindrucksvollen Einblick in die Probleme ihres westafrikanischen Landes gibt. Die Aufarbeitung der deutschen Klimapolitik in Form eines drastischen Gerichtsprozesses erfolgt bei dieser Inszenierung nicht ohne eine gewisse Ironie. Die Frage bleibt, was geschehen wird, wenn darüber nur noch Richterinnen und Richter urteilen.  Im Gerichtssaal wird verhandelt, wer für diese unumkehrbare Entwicklung verantwortlich ist. Man erfährt zudem, dass die CO2-Werte gesunken sind. Die Autolobby befürchtet Strafzahlungen – im Stück wird in diesem Zusammenhang  die Daimler-Zentrale in Möhringen eingeblendet.

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Nicole Heesters, Anke Schubert. Foto: Julian Baumann

Und die Autoindustrie hat im Kanzleramt vorgesprochen, was die in Großaufnahme per Video sichtbare Nicole Heesters emotionslos registriert. Als Anwältinnen fungieren hier ferner darstellerisch höchst virtuos Josephine Köhler und Marietta Meguid, die einen inneren Wandlungsprozess durchmachen. Der Blick in die Zukunft weckt hier Prognosen, Ängste, Hoffnungen. Und trotzdem besteht immer noch die Chance, etwas zu verändern. Dies machen sowohl Sven Prietz als Anwalt Victor Graf als auch Anke Schubert als stoische Richterin Hannah Klein deutlich. Als Zeugen fesseln ferner David Müller als Hannes Schwerdtner, Marco Massafra als Heiner Becker, Reinhard Mahlberg als Philipp Schneider, Gabriele Hintermaier als Beate Lammfeld, Gabor Bidermann als skurriler Tibor Kovacs, Michael Stiller als Patrick Kahner, Boris Burgstaller als Jürgen Resch sowie Elmar Roloff (Video) als Dr. Frank Riemschmidt, Jahangir Hasan Masum (Video) als Sulab Makan und Christiane Roßbach (Video) als Lilya Boerensen.

Trotz mancher plakativer Schwächen gelingt es Burkhard C. Kosminski in seiner Inszenierung, einen inneren Spannungsbogen in elektrisierender Weise durchzuhalten. Zuletzt regnet es unzählige Plastik-Flaschen vom Himmel, die den „Ökozid“ auf ganz eigentümliche Weise beleuchten. Der Klimawandel offenbart sich aber auch hinsichtlich der Pandemie und dem Artensterben. Im Protokoll von Andres Veiel und Jutta Doberstein erscheint dieses eigentlich absurde Gerichtsverfahren als Drama,  das unsere Gegenwart in fast grotesker Weise als Vergangenheit behandelt. Die Chronik dieser Klimakrise wird zur dramatischen Spurensuche. Gewisse Assoziationen ergeben sich außerdem zum Ende April 2021 verkündeten Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts, in dem die Karlsruher Richter einen verfassungsrechtlich verbindlichen und gerichtlich überprüfbaren  Auftrag zum Klimaschutz  herausgearbeitet haben. Das Spannungsverhältnis zwischen Gerichten und demokratischen Verfahren wird in markanter Weise aufgezeigt.

Die Gepflogenheiten bei Gericht werden hier ad absudrum geführt, denn plötzlich flippen alle Beteiligten aus und stimmen Lieder im Country- und Rock-Stil an. Josephine Köhler betätigt sich zudem als stark emotional agierende Sängerin. Kosminski versucht dabei, den starren Ablauf der Handlung zu durchbrechen. Das hat manchmal zwar etwas Gewaltsames, schränkt die Akteure aber nicht ein. So kommt Fluss ins Spiel. Die Geschehnisse auf der Bühne werden in suggestiver Weise per Videoschaltung in den Zuschauerraum getragen. Das Publikum wird so direkt ins Geschehen mit einbezogen. Es ist Kosminski bei dieser Arbeit jedenfalls gelungen, Gericht und Theater zusammenwachsen zu lassen. So ungeheuer wandlungsfähige Darstellerinnen wie Josephine Köhler geben der Handlung eine ungewohnte Farbe und Leuchtkraft. Auch Nicole Heesters besitzt als Angela Merkel eine stärkere Ausstrahlung als das Original. Als Richterin verkündet Anke Schubert am Ende, dass der Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland stattgegeben wird. Die Aufführung lebt vor allem von der hervorragenden schauspielerischen Präsenz der gut aufeinander abgestimmten Darsteller. Hans Platzgumers Musik treibt das Geschehen an.

So gab es viel „Bravo“-Rufe und starken Schlussapplaus.

Alexander Walther

 

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