Stuttgarter Ballett: „NOVERRE: JUNGE CHOREOGRAPHEN“ 25.1.2025 (Schauspielhaus) – Viel Gedankentiefe und ein Roboter
Erstaunlich viel klassische Musik und viel Tanz auf klassischer Basis in Verbindung mit viel Gedankenreichtum – das ist kurz zusammengefasst das Fazit der diesjährigen Auflage der einst von Fritz Höver und der heute nicht mehr bestehenden Stuttgarter Noverre-Gesellschaft ins Leben gerufenen Podiumsreihe, in der sich Tänzer ohne Erfolgsdruck als Choreographen ausprobieren können. Die Projektleiterin Sonia Santiago hat diesmal neben 4 Stuttgarter TänzerInnen noch drei Auswärtige an Land gezogen. Eine sehr wertvolle und hilfreiche Ergänzung sind die kleinen, von Artist in Residence und Hausfotograf Roman Novitzky gedrehten Filmchen, in der sich die jungen Tanzschöpfer vorstellen und eine kleine Einführung über sich, ihre Intentionen, Ideen und Betrachtungen geben.
„Daydreaming“: Dorian Plasse (rechts oben) mit Ensemble. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Gruppentänzer Emanuele Babici ist sich treu geblieben. In seiner Vorliebe für Klassisches hat ihn diesmal der erste Satz aus Rachmaninows berühmtem 2.Klavierkonzert inspiriert, seiner geliebten Familie, ohne die er seinen Berufstraum hätte nicht umsetzen können, mit „DAYDREAMING“ ein Stück zu widmen, in dem er die so wichtigen persönlichen Beziehungen im Leben sowie die durchs Erwachsenwerden erfolgenden Veränderungen, veranschaulicht. In einer Choreographie, in der er nicht nur den Rhythmus der Musik in klassischer Manier nachzeichnet, vielmehr auch mit ihr spielt und Soli des Protagonisten (wohl sein Alter Ego) – von Dorian Plasse geschmeidig intensiv umgesetzt – mit Duos und Ensembleszenen in ein Unaufhörliches Ganzes geschickt verwebt. Mag auch mancher Moment nicht ganz im Einklang mit der Musik gelungen sein, in der Gesamtschau ist das ein harmonischer Auftakt, der als wichtiges Signal in unserer ringsum erschütterten Welt genauso gut auch das Finale hätte bilden dürfen.
Ashley Davis als Gast aus Rotterdam ist mit ihren gerade mal 18 Jahren die jüngste Teilnehmerin und erstaunt darob umso mehr mit ihrer gedankenschweren Kreation „AD VITAM AETERNAM“ (=zum Ewigen Leben). Grob zusammengefasst reflektiert sie darin die Missstände unserer konsumorientierten Welt, die Menschen blind macht, für Wertvolleres zu leben. Leon Metelsky und Carter Smalling zeigen in einem freie Tanzformen bedienenden und etwas rätselhaften Vexierspiel mit einem Schleier die Teilung unserer Existenz in ein Leben für das Äußere und das Innere. Mehrere Lichtfelder im ansonsten dunklen Bühnenraum tragen ebenso dazu bei Stimmung zu schaffen wie ein Ausschnitt aus Henryk Goreckis aus sanftem Beginn anschwellender „Sinfonie der Klagelieder“.
Früh übt sich, wer ein Meister werden will – das gilt für den Noch-Cranko-Schüler Justin Padilla ganz besonders. In „CASCADE“ setzt er sein knapp formuliertes Motto, dass persönliche Verbindungen den Tanz antreiben und die Verflechtung von Bewegungen die Textur und Fluss erforscht, in einen sich im Strom des Adagio aus Ezio Bossos „Violinkonzert“ unaufhörlich wellenden Pas de trois um. Farrah Hirsch, Ruth Schultz und er selbst anstatt der verletzten Ava Arbuckle (deren eigener für sie selbst kreierter Beitrag somit entfallen mußte) erfüllen ihn zunächst von violetten Schleiern verhüllt, in schöner Einheit und dem Bewusstsein für Form und Musikalität.
„Der kleine Prinz: Yana Peneva (Prinz) mit Roboter-Fuchs. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Sehr anspruchsvoll präsentierte sich bereits im letzten Jahr der Eleve Carlos Strasser als Multitalent für Tanz, Musik und Sprache. Diesmal mit einer eigenen am PC elektronisch verarbeiteten Klaviermusik und Zitaten aus dem titelgebenden „DER KLEINE PRINZ“, in dem er mit dem Prinzen in Grün (Yana Peneva), der Rose in Rot (Doga Taskaya) und vier Schatten in Schwarz (Adrian Hohenberg, Carter Smalling, Jamie Constance und Alexei Orohovsky) ein philosophisches Spiel mit teils berührenden Schritt- und Zeichenfindungen entfaltet. Eine originelle Note ist der von einem Roboter gemimte Fuchs, dessen Optik und Bewegungen allerdings eher an eine Mischung aus Hund und Frosch erinnern. Faszinierend ist vor allem auch die Funktion einer sternenbedeckten Rückwand und einer über einen transparenten Schleier ziehenden Wolkenformation, die eine fliegende Position des Betrachters suggerieren.
Eine mögliche Apokalypse und die Frage, wer die Kontrolle übernimmt, übersetzt Gruppentänzer Noan Alves in den Einzug des Experimentellen in die klassische Struktur von Tanz. „ECHOES OF THE SOUL“ veranschaulicht zwischen zwei kleinen fahrbaren Bildschirmen, die Programm als auch Mattscheibe aufweisen, in auffallenden engen Ganzkörperanzügen mit breit auslaufenden Hosen und in klaren neoklassischen Formen, die immer wieder gebrochen werden, wie Menschen – hier unter einem Tuch – verschlungen werden können. Veronika Verterich steht als Protagonistin in Weiß mit klarer solistischer Präsenz im Mittelpunkt, flankiert von Yana Peneva, Isabela Souza, Leon Metelsky und Mitchell Millhollin.
„Songs for the Unheard“: Vittoria Girelli und Ruth Schultz. Copyright: Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
„SONGS FOR THE UNHEARD“ – mit diesem Song von Abu Jahib aus den 1970er Jahren erinnert der einstige Stuttgarter Solist und heute freischaffende Tänzer und Choreograph Robert Robinson an die darin verhandelten, unverändert aktuellen Themen Kampf, Verlust und Widerstandskraft, die Stimmen jener, die ungehört geblieben sind und formuliert gleichzeitig seinen persönlichen Antwortversuch auf gegenwärtige Herausforderungen. In einem freien, lebhaft vorwärts drängenden Stil mit schnell wechselnden Wendungen und Gebärden ist dabei ein sowohl anschauliches als auch ausdrucksstarkes Duo entstanden, das Vittoria Girelli und Ruth Schultz mit spürbarer Animation und Lust umsetzen.
Zum zweiten Mal dabei ist der bereits international als Choreograph tätige Nigarianer mit italienischem Pass Nnamdi Nwagwu. Allein schon der Titel „OK DRAMAH!!“ setzt einige Fragezeichen. Sein Kommentar „Öffnen Sie Ihr Herz, checken Sie es auf Empathie und genießen Sie das Dramah!!“ weckt Neugier und Animation. Die ersten beiden Abschnitte mit ungewöhnlich komischen Tanz-Ritualen zu orientalischen Klängen lassen noch an eine ironische Auffassung denken, doch dann wendet sich das Blatt zum Tragischen, die fünf TänzerInnen verharren in fast zeitlupenartigen Balancen und Hebepositionen zu ernst bedrohlicher Klangkulisse und verschwimmen auch zu wie im Raum schwebenden Schattenfiguren. An der Spitze des Quintetts steht die biegsame Aoi Sawano, gefolgt von Dorian Plasse, Joaquin Gaubeca, Mitchell Millhollin und Riccardo Ferlito.
Wie immer wusste das fachmännische Stuttgarter Publikum differenziert begeistert zu reagieren, wobei das klassische, in allen Komponenten in sich gerundete Entree-Stück doch noch etwas intensivere Würdigung verdient hätte – eines harmonischen Gesamtkunstwerkes, dessen wir in diesen Zeit dringender denn je bedürfen. Doch der Zeitgeist diktiert wohl Anderes!
Udo Klebes