Stuttgarter Ballett
„NOVERRE: JUNGE CHOREOGRAPHEN“ 18.4.2021 (Schauspielhaus) – gewidmet Rainer Woihsyk
„Der Weg ist das Ziel“ hatte einst der große John Cranko anlässlich der zu seinem Direktionsstart in Stuttgart 1961 noch nicht lange begonnenen Reihe der von der Noverre-Gesellschaft initiierten Abende für Junge Choreographen geäußert. Das ist auch der Grundtenor der bei der jetzigen Neuauflage angetretenen TänzerInnen, die jeweils in kurzen Filmbeiträgen von Roman Novitzky und Alexander McGowan vor der Präsentation ihrer Stücke ihre Gedanken zur aktuellen Lage formulieren. Und dabei vor allem den nicht vorhandenen Druck eines Erfolges schätzen und im Probieren das Wesentliche sehen.
Gewidmet ist dieser Abend diesmal Rainer Woihysk, dem im November vergangenen Jahres verstorbenen letzten Vorsitzenden der inzwischen aufgelösten Noverre-Gesellschaft. Da diese inzwischen zur Tradition gewordene jährliche Veranstaltung, bei denen heutige Choreographen-Größen wie John Neumeier, Jiri Kylian oder William Forsythe ihre erste Schrittmacher-Versuche gestartet hatten, aus dem Stuttgarter Ballettleben nicht mehr wegzudenken ist, hat Ballettdirektor Tamas Detrich diese Einrichtung in die Regie des Stuttgarter Balletts übernommen.
Jessica Fyfe und Moacir De Oliveira in „Peace apart“. Foto: Stuttgarter Ballett
Der aktuellen Lage geschuldet ist die diesmal geringere Teilnehmer-Zahl, d.h. vor allem der Wegfall von außen kommenden jungen Choreographen, aber bekanntlich geht es nicht unbedingt um Quantität, sondern um Qualität und die gab es unter den 7 kreierten Schöpfungen auf teils beachtlichem, wenn nicht sogar heraus ragendem Niveau. Das trifft vor allem auf zwei Arbeiten zu. Mit „PEACE APART“ (= getrennter Friede) von Jessica Fyfe setzt das Programm einen hoffnungsvollen Beginn, vermittelt die Solistin doch in Form eines ganz klassisch geprägten, wie ein vierteiliger Pas de deux aufgebauten Stückes, wie befreiend es in der derzeitigen Lage ist, sich einerseits dem Tanz pur hinzugeben, und doch bei aller choreographisch genau den ausgewählten Chopin-Stücken folgenden Harmonie mittels eines großen Stoffschleiers sowie sehr fein gesetzter Schritt-Akzente das Thema Distanz und Trennung auf unaufdringliche Weise in den Bewegungs-Fluss zu integrieren. Die zierliche Australierin hat diese Kreation sich selbst und dem Halbsolisten Moacir De Oliveira auf den Leib geschneidert. Leichtfüßige Spitzentechnik kombiniert mit einem Wechsel aus Freude und Dankbarkeit, aber auch Wehmut und Nachdenklichkeit. Als Ganzes eine gute Alternative zu den traditionellen, für eine Gala geeigneten Pas de deux.
Veronika Verterich und Clemens Fröhlich in „The storm before the calm“. Foto: Stuttgarter Ballett
In Umkehr des bekannten Sprichwortes „die Ruhe vor dem Sturm“ schildert Adrian Oldenburger in seinem kurz und knapp gefassten Pas de deux „THE STORM BEFORE THE CALM“ die dunklen, auch zum Leben gehörenden Stunden bzw. Momente. Wie bedrohlich wirkt für eine Frau zunächst der auf einer Leinwand wie vergrößert sichtbar werdende Schatten, bis er hervortritt und wechselnd zum zusetzenden oder tröstenden Partner wird. Urplötzlich stockende, Erschrecken signalisierende Bewegungen unterbrechen immer wieder den Fluss teils leichter, wie von Flügeln getragener Bewegungen. Eine Melodie aus Glucks „Orfeo e Euridice“ in einem Arrangement für Violine und Klavier trägt diesen Pas de deux wie auf Händen, Veronika Verterich und Clemens Fröhlich sind die einfühlsamen Interpreten dieses mit einigen anspruchsvollen Hebe-Partien gespickten und im Ausdruck berührenden Pas deux.
Auch David Moore verarbeitet die aktuelle Lage, die Einschränkungen in Raum und Zeit und zeigt in „BRIDGES“ drei Tänzer (Agnes Su, Matteo Miccini, Adhonay Soares Da Silva), die sich mit viel ruderndem Armeinsatz Platz verschaffen für ihren Ausdruckswillen und dabei immer wieder an Grenzen geraten. Fast noch mehr als der auf Dauer etwas beliebig wirkende Modern style und die dazu passende Musik fällt die Lichtgestaltung vor einem zunächst dunklen, später tiefblauen Hintergrund mit zuletzt wie funkelnde Sterne aufgeblendeten Scheinwerfern aus.
Aurora De Mori setzt in ihrem neuen Stück „AJNA“ mit selbst verfasstem und von einer Männerstimme rezitiertem Gedicht starke Akzente in der Kombination von sehr bedeutungsvollen, fast sprechend abgewinkelten Armen, dynamisch eingesetzten Lichtquellen und den zwischen rockartig schwarzen Hosen, teils mit Jacke, teils mit freiem Oberkörper bei den Herren und von Weiß zu Rot wechselnden Kleidern bei den Damen. Die sehr gut ausgewählte Musik, zunächst elegische Streicherklänge, dann das fast rauschhaft gesteigerte Filmpanorama von Ennio Morricone transportiert den Aufbau der Choreographie ideal. Von den sechs Beteiligten ragt die männliche Hälfte körpersprachlich heraus (Christopher Kunzelmann, Martino Semenzato, Vincent Travnicek), die weibliche Seite bleibt etwas verhaltener (Mizuki Ameniya Ya, Aiara Iturrioz Rico, Martina Marin).
Hyo-Jung Kang und Fabio Adorisio in „Kineograph“. Foto: Stuttgarter Ballett
Vittoria Girelli wiederum besinnt sich in „KINEOGRAPH“ auf die fortschreitende Zerstörung der Natur und schickt fünf ihrer Tänzer-Kollegen in farblich naturverbundenen Shorts und Tops mit auffälligem Rückenmittelstreifen und streng gegelten Haaren mit gestenreichem Schrittmaterial schwankend zwischen tiefem Verdruss und ironischem Kommentar durch eine Geräuschkulisse, durchbrochen von einem harmonischeren Mittelteil zu einer Beethoven-Duosonate. Hyo-Jung Kang und Fabio Adorisio tun sich in einem eingestreuten Pas de deux etwas mehr hervor als die im Übrigen am gleichen Strang ziehenden Rocio Aleman, Henrik Erikson und Timoor Afshar.
Marti Fernandez Paixa und Alessandro Giaquinto in „Deltangi“. Foto: Stuttgarter Ballett
Letzterer greift in seinem Stück „DELTANGI“ (= Die Enge des Herzens) die mehrfache Wanderschaft seiner persischen Vorfahren auf und betont in kreisenden, oft in die Hocke gehenden, dazwischen wie zu Sprüngen ansetzenden Schritten selbst bei schnellem Zeitmaß noch die Komponente des Gehens und Wanderns. In der musikalisch zwischen orientalischen, teils vokal unterlegten Klängen und rhythmisch beschleunigter Filmmusik zweigeteilten Kreation behauptet sich vor allem der zuletzt auch als Buchautor hervor getretene Alessandro Giaquinto als körperlich fein gestaltender Tänzer. Daiana Ruiz und Marti Fernandez Paixa fügen sich einfühlsam ins Geschehen.
Bleibt noch wie schon in den beiden letzten Jahren als Abschluss das derzeit auffallendste Nachwuchs-Talent Shaked Heller. Diesmal hat sich der Israeli, ausgehend von einem im voran gegangenen Kurzportrait erwähnten alleine begangenen Weg mit offenem Ausgang, zu einer Studie von der Kreatur des Menschen als universell lebende Form, nicht geschlechtlich getrennt, inspirieren lassen. Seine fünf Tänzer (Elisa Badenes, Sinead Brodd, Mackenzie Brown, Paula Rezende und der bereits zu Hellers Stamm-Personal gehörende, wie immer exzentrisch bestechende Louis Stiens) stecken in „AGOLOY“ deshalb einheitlich in rosafarbenen Ganzkörper-Trikots mit weiten Faltenärmeln. Der Boden bildet den Ausgangspunkt für allerlei ineinander verwobene Variationen des Drehens, Wendens, Kriechens und Wälzens. Spätere Versuche stehenden Ausrichtungen die Oberhand zu geben scheitern am häufigen Wiedereinknicken der Beine. Der Wechsel zwischen Edvard Griegs stimmungsvollem Solveig-Lied und blecherner Schlaggeräusch-Kulisse unterstreicht die Diversität des Stückes.
Wenigstens sparte der in diesen Abend involvierte Mitarbeiter-Stab nicht mit Applaus und Begeisterungsrufen, um die Verbeugungsrituale und Überreichung von Blumen nicht total ins Leere laufen zu lassen. Ein Dank an den Sponsor-Partner ENBW für die Ermöglichung dieses für mehrere Tage verfügbaren streams.
Udo Klebes