Foto: Michiel Devijver
Premiere von „“Lamm Gottes – Der Genter Altar“ am 3. Mai 2019 im Schauspielhaus/STUTTGART
ZAHLREICHE SPIEGELUNGEN GOTTES
In der Inszenierung von Milo Rau kommt die Genter Stadtgesellschaft auf die Bühne. Man sieht einen Dirigenten, der das Geschehen mit Hilfe von Samuel Barbers „Adagio for Strings“ in suggestiver Weise beschwört. Mann und Frau übernehmen die Rolle von Adam und Eva, entkleiden sich, dann wirkt ein Kinderchor in erfrischender Weise mit. Der Genter Altar der Brüder van Eyck bildet hier immer wieder ein geradezu magisches Zentrum, das aus dem Nebel geheimnisvoll und fast unheimlich aufsteigt. Die Darsteller agieren zuweilen wie in Trance, Lämmer betreten zusammen mit einem Hund die Bühne. Ein Schaf wird geschoren, es ist ein religiöses und meditatives Ritual. Lichtschatten fallen auf die Bühne. Ein nacktes Paar verschmilzt in einem Liebesakt. Spirituelle Elemente kehren bei dieser Inszenierung immer wieder. In Videoaufnahmen sieht man, wie Lämmer geschlachtet werden. Milo Rau hat sogar an Pasolinis Verfilmung der „120 Tage von Sodom“ des Marquis de Sade gedacht. Man sieht dabei, dass das Schlachten von Tieren immer ein barbarischer Akt ist. In solchen erschreckenden Momenten erkennt der Zuschauer die Zusammenhänge.
Aber es gibt hier nicht nur furchteinflößende Passagen, sondern vor allem auch berührende und zärtliche Augenblicke zwischen Menschen, die sich in sehr natürlicher Weise nahekommen. Das sieht man im Theater selten. Zuweilen scheinen die Protagonisten im Gebet zu verharren. Der Genter Altar wird in unsere moderne Zeit übertragen, man sieht das Original auch in einer Videoaufnahme. Es sind Spiegelungen Gottes in tausend Schattierungen, die den Zuschauer hier überraschen. Da gewinnt diese Inszenierung eine immer größere Dichte. Eine alte Frau ist in Großaufnahme sichtbar, die ihr Leben noch einmal Revue passieren lässt. Man sieht ihr Lächeln, als sie ein Lieblingslied ihres Idols Leonard Cohen hört. Der nackte Adam und die nackte Eva kehren dann am Ende wieder in anderer Form noch einmal zurück, verwandeln die Szene ganz kurz in ein unbeschreibliches Paradies, bis sie in der Dunkelheit verschwinden. Die Schlange bleibt spürbar. Das verlorene Paradies lässt grüßen. Eine Frau beklagt den Verlust ihres Sohnes, der in Syrien als IS-Kämpfer verschollen ist. Politische und soziale Konflikte unserer Zeit werden in diesem Stück wiederholt drastisch angesprochen. Aber es ist auch faszinierend, wie Milo Rau die Architektur und Struktur des Genter Altars auf die Bühne holt. Der Flügelaltar in der St.-Bavo-Kathedrale in der belgischen Stadt Gent gewinnt so modernes Leben, denn die einzelnen Darsteller werden mit Hilfe von Video-Sequenzen einfach nach oben „gebeamt“. Sie sind jetzt Inhalt des Altars. Das ist visuell besonders reizvoll und einfallsreich. Die über der unteren Etage befindliche mittlere Zone zeigt nun die Verkündigungsszene ganz neu. Das ist spannend, denn der auf vier Tafeln präsentierte Innenraum wird in ungewöhnlicher Weise reflektiert. Und die obere Zone mit ihren Rundbogenabschlüssen der darunter liegenden Tafeln weisen auf Adam und Eva hin. Es besteht so eine sehr enge Verzahnung zwischen Bühne und Altar, was absolut ungewöhnlich ist. Auch die Festtagsseite mit ihren zwei Zonen lässt die monumentale Gestalt erahnen, die als Gott Vater, als Christus oder Dreieiniger Gott ausgelegt werden kann. Und der untere Teil der Festtagsseite mit ihren fünf Tafeln und der Landschaft im Hintergrund wird bei dieser subtilen Inszenierung durch die Darsteller angedeutet.
Foto: Michiel Devijver
Auf der großen Bühne agieren Rames Abdullah, Storm Calle, Güllüzar Calli, Andie Dushime, Koen Everaert, Fatima Ezzarhouni, Frank Focketyn, Nima Jebelli, Chris Thys, Fanny Vandesande und Bram Wets (Kostüme: Anton Lukas; Video: Steven Maenhout). Diese Koproduktion des Genter Theaters mit dem Theater Amsterdam besitzt eine enorme künstlerische Aussagekraft, die sich auf das Publikum in positiver Weise überträgt. Denn es sind Visionen von der Existenz Gottes und der biblischen Geschichte, die die Zuschauer hier bewegen. Man spürt die Gegenwart des Verkündigungsengels, der hier durch die Darsteller zu den Menschen spricht. Die Anbetung des Lammes wird so zu einer Quelle des Lebens.
Alexander Walther