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STUTTGART/ Schauspielhaus: KÖNIG LEAR in Claus Peymanns Inszenierung. Premiere

24.02.2018 | Theater


Peter Rene Lüdicke, Lea Ruckpaul, Martin Schwab, Lukas T. Sperber. Copyright: Thomas Aurin

Claus Peymann inszeniert „König Lear“ von William Shakespeare im Schauspielhaus Stuttgart

Premiere „König Lear“ von William Shakespeare am 23.2.2018 im Schauspielhaus/STUTTGART

KLAGE ÜBER DEN VERLUST DER MÖGLICHKEITEN

In Zeiten des Brexit wirft man automatisch einen neuen Blick auf Shakespeares „König Lear“. Und Claus Peymann inszeniert diese Tragödie auch durchaus als erschütterndes Bild eines zerfallenden Königreichs, wenngleich am Schluss Hoffnung aufscheint, als Kent und Edgar die Herrschaft des englischen Staates übernehmen. Der Gegensatz von märchenhaft allmächtigen und abdankenden Monarchen wird hier grell geschildert, hinzu kommt das drastische Antimärchen des Narren.

Auf einer schrägen, kreisförmigen Bühne mit schwarzem Hintergrund und betont schlichter Ausstattung entfaltet sich die ganze Dramatik dieses Geschehens. König Lear will abdanken und sein Reich unter seinen drei Töchtern Goneril, Regan und Cordelia aufteilen. Die Liebe der Töchter wird auf eine harte Probe gestellt. Goneril und Regan stellen den Vater mit ihren Antworten zufrieden und erhalten ihr Erbe. Cordelia aber verweigert sich und beantwortet die Frage mit „nichts“. Dafür wird sie vom Vater enterbt und verstoßen, flieht aber als Ehefrau des Königs von Frankreich aus ihrem Vaterland. Lear wird wahnsinnig, gerade weil ihn die Worte seines Narren nicht mehr erreichen können. Die Töchter Goneril und Regan vergiften sich gegenseitig, Cordelia stirbt während der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und den von Goneril und Regan geführten Scharen. Und der verzweifelte Vater trägt sie zuletzt auf Händen auf die kahle Bühne, bevor auch er stirbt. Der Nihilismus der Werte und der Semantik wird auch bei Claus Peymanns Inszenierung von König Lear auf die Spitze getrieben. Die Klage über den unwiederbringlichen Verlust günstiger Augenblicke und Möglichkeiten endet in der Katastrophe. So ist die entsetzliche Blendung Glosters ein unbestreitbarer dramatischer Höhepunkt dieser Aufführung, die viele einzelne Details auf den Punkt bringt.

Martin Schwab überzeugt als König Lear vor allem in der Schluss-Szene aufgrund seiner Darstellung, die die innere Zerrissenheit des Königs grell beleuchtet. Eine ausgezeichnete Leistung präsentiert Lea Ruckpaul als Narr, die die isolierte Beobachterposition nuanciert herausarbeitet. Dabei stört die fehlende philosophische Systematik nicht. Die zutreffenden Sätze des Narren treffen König Lear bis ins Mark, was Martin Schwab bei seiner Darstellung immer wieder erschütternd unterstreicht. Aber auch als Cordelia erreicht Lea Ruckpaul bewegende und berührende Momente, die das seelische Hin- und Hergerissensein verdeutlichen. Die Figurenkommunikation mit dem Publikum funktioniert in Peymanns Inszenierung bei den Narren-Szenen übrigens am besten. Man soll Lear so sehen, wie ihn der Narr sieht – aber auch so, wie er sich selber darstellt. Der Narr formuliert hier auch den Verstandesverlust in deutlicher Weise. Gleichzeitig bleibt immer offen, was denn auf König Lear wirklich zutrifft. So hängt die Bühne in der Mitte. Ein starke Szene ergibt sich auch aus Lears Selbstdeutung als Wahnsinniger am Ende des zweiten Aktes: Der Wahn tritt hier tatsächlich als Bewusstsein auf, wahnsinnig zu werden. Manja Kuhl als Lears Tochter Goneril und Caroline Junghanns als deren Schwester Regan treiben diese seelische Reise in den Irrsinn in dieser Inszenierung fieberhaft und konsequent an. Und Lear bittet dann, mit allen Handlungen aufzuhören, die ihn wahnsinnig werden ließen. Die Verweigerung der Tränen mutiert zur Verweigerung von Machtverzicht. Das Gewitter nimmt bei Peymanns Inszenierung eine zentrale und ohrenbetäubende Wirkung ein, gespenstisch flattert der schwarze Vorhang beim Windesrauschen ins Publikum, flankiert von geheimnisvollen Liedern aus der Shakespeare-Zeit – arrangiert von Max Braun (Bühne: Karl-Ernst Herrmann; Kostüme: Margit Koppendorfer). So wird die Menschenweltzerstörung fast hysterisch beschworen. Auch die Begegnung Lears mit Glosters Sohn Edgar gerät hier zu einem zentralen Punkt dieser stellenweise auch sehr suggestiven Inszenierung. Edgar ist der allgemeine andere für Lear, während Cordelia die individuell andere für Lear ist.


Martin Schwab, Lea Ruckpaul. Copyright: Thomas Aurin

Gerade diese unheimliche Entfremdung der Personen führt bei Peymann ganz unausweichlich zur Tragödie, denn eine normale Kommunikation ist so zwischen den Menschen nicht mehr möglich. Es ist auch ein schrecklicher Verlust des Glaubens, der sich hier als riesiger Krater auftut. Hintergründig wirkt so auch der Satz des Narren: „Diese kalte Nacht macht aus uns allen Narren und Verrückte.“ Die Charakterfehler der einzelnen Figuren führen so die Untergangsstimmung geradezu herbei. Dies machen ebenso Michael Stiller als Gonerils Ehemann Albany, Andreas Leupold als Regans Ehemann Cornwall, Horst Kotterba als Frankreich, Jürgen Lingmann als Burgund und Elmar Roloff als Gloster eindringlich deutlich. Noch glühender und unmittelbarer agiert der ausgezeichnete Elmar Roloff als Gloster, der nicht nur sein Augenlicht, sondern gleich seine Seele verliert. Lukas T. Sperber als Glosters Sohn Edgar, Jannik Mühlenweg als Glosters unehelicher und mit seinem Halbbruder Edgar kämpfende Sohn Edmund und Peter Rene Lüdicke als Kent bieten ebenfalls vielschichtige Charakterstudien. Horst Kotterba als Oswald, Jürgen Lingmann als Arzt und Boris Burgstaller als Einer erreichen bei dieser Inszenierung zudem ein bemerkenswert kontrastreiches Niveau. Man spürt bei der Aufführung auch, wie Lear sich von etwas gelöst und dann einen anderen Zustand erreicht hat. Das Drama ist bei Peymann nicht unbedingt ein archaischer, sondern ein zeitloser Raum. Darauf weisen auch die Glastüren hin, die sich immer wieder öffnen. Manchmal vermisst man den zeitlosen und metaphysischen Bezug, der das philosophische Gerüst noch mehr unterstreichen könnte. Und trotzdem wühlt diese Aufführung den Zuschauer innerlich auf, lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Zurück bleibt fast ein Gefühl der Atemlosigkeit (Fechtszenen: Annette Bauer).

Ovationen für das Team

Alexander Walther

 

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