Stuttgarter Ballett
„JUNGE CHOREOGRAPHEN“ 23.4.2022 (Schauspielhaus) – Zwischen Intellekt und erfrischender Unterhaltung
Vor zwei Jahren musste ganz abgesagt werden, im letzten Jahr konnte das Publikum per stream dabei sein. Jetzt nach drei Jahren endlich wieder Normalität. Die traditionelle, von der inzwischen aufgelösten Noverre- Gesellschaft begründete und nun ganz in die Hände des Stuttgarter Balletts übergegangene Präsentation junger Choreographen wieder mit Publikum und zusätzlich als Übertragung per stream. Von letzterem profitierte auch der sich in Quarantäne befindende Rezensent. Positive Testergebnisse machten aber auch Programmänderungen bzw. -streichungen und kurzfristige Tänzeraustausche erforderlich. Projektleiterin Sonia Santiago konnte bei ihrer einleitenden Moderation in Deutsch und Englisch die Aufregung zwischen Glücksgefühl und den bis zuletzt bestanden habenden Unsicherheiten nicht ganz verhehlen und gewann in dieser emotionalen Verfassung umso mehr Sympathie.
Am Anfang steht anspruchsvolle Kost. Halbsolist Timoor Afshar nennt seine dritte Choreographie „ZEITORGAN“ in Anlehnung an eine Formulierung in Thomas Manns „Zauberberg“, der ihm als Quelle dient. Die Zeit als Begriff und Wahrnehmung durch Erinnerungen. Einerseits greift der Amerikaner konkrete Dialoge aus Manns berühmtem Roman auf, lässt auch ein kurzes Textzitat sprechen, andererseits setzt er aber auf Abstraktion. Das stiftet eher Verwirrung als Enträtselung des im Modern Dance angesiedelten Schrittvokabulars. Zuerst sind die 6 TänzerInnen im von einer zentralen Lichtquelle schneisenförmig beleuchteten Bühnenraum durch rote Seile miteinander verbunden, legen dieses schließlich ab und spalten sich in Soli, Duos und Trios. Schnelle Handspielereien, durch den Körper gehende Wellen, kaum durchgehende Linien entsprechen wohl dem grüblerischen Charakter des Stücks, unterstützt von einer experimentellen Musikcollage zwischen Geräuschimpulsen und Klangfeldern. Frackartige Mäntel, Overalls und ein Kleid verweisen auf die Zeit der Vorlage.
Anouk van der Weijde, Joana Senra, Henrik Erikson, Clemens Fröhlich, Flemming Puthenpurayil und Edoardo Sartori können abgesehen von ihrem Engagement nur wenig Licht in dieses Zeitdunkel bringen. Eher verhalten fällt auch die Würdigung durch das Publikum aus.
Ensemble in „Better late than never“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Größer hätte der Kontrast zum nächsten Beitrag nicht ausfallen können. Gruppentänzer Adrian Oldenburger setzt auf lockeres Flair und auf Tanz in anmachend klassischen Bahnen. Wie schon bei seiner ersten Choreographie 2021 herrscht Harmonie zwischen Choreographie und Musik, auch wenn er in „BETTER LATE THAN NEVER“ keineswegs auf eine traditionelle Umsetzung des ausgewählten Walzers, mehr auf eine charakterisierende Gliederung setzt, die dennoch dem Fluss der Musik folgt und in einigen großzügigen Hebe-Figuren an Weite und Größe gewinnt. Johann Strauß allseits führendes Konzertstück „An der schönen blauen Donau“ dient als Stimmungsträger für seinen Blick auf eine Gesellschaft in Business-Kleidung und Hüten, die mit ihren Aktenkoffern dazwischen zu wechselnden (Partner-) Stelldicheins eilen, mal nur ein Treffen auf der Straße oder zu einem imaginären Ball. Phasenweise aufleuchtende quadratische Bodenfelder unterstreichen die raschen Wechsel, aber auch die im Tanz aufgegriffenen Motivwiederholungen, wenn die Musik immer mal wieder abrupt stehen bleibt und nach kurzer Stille an anderer Stelle wieder einsetzt. Juliane Franzoi, Fernanda Lopes, Jolie Rose Lombardo, Irene Yang, Satchel Tanner, Lassi Hirvonen und Danil Zinovyev servieren diesen Reigen voller kleinteiliger Überraschungen mit erfrischender Lust und Animation. Entsprechend dankbar ist auch die Publikumsreaktion.
Alessandro Giaquinto + Henrik Erikson in „Yasuragi no chi“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Im Rahmen der Blicke hinter die Kulissen im Februar war bereits die Entwicklung eines Pas de deux von Halbsolist Alessandro Giaquinto zu verfolgen. Als Ausgangspunkt dient ein auch gesprochenes Zitat von Charles Bukowski, gemäß dem der Mensch schon in den ersten Schuljahren seine Selbstbestimmtheit verliert. Nach Fertigstellung hat die Arbeit jetzt auch einen Namen bekommen: „YASURAGI NO CHI“ (= sicherer Zufluchtsort). Seine Uraufführung erlebte er bereits im März in Tokyo im Rahmen des abgeänderten Gastspielprogramms. Nun also vor heimischem Publikum. Vor dumpfer Geräuschkulisse, die in eine romantische Ballade mündet, kommen sich zwei Männer in hellen Hosen und freien Oberkörpern in teils nervös mäandernden, auch tastenden Bewegungen immer näher, ehe sie in einem engen Lichtkreis ganz zueinander finden, quasi Zuflucht gefunden haben. Nebelschwaden vor nachtschwarzem Hintergrund schaffen eine beklemmend soghafte Atmosphäre, in der der Wechsel von irritierend suchender und dann immer mehr Nähe erreichender Körpersprache nach etwas belanglosem Beginn an Spannkraft gewinnt.
Der geschmeidige Choreograph selbst und der persönlichkeitsstarke Henrik Erikson lassen dieser Schöpfung eine zuletzt berührende Note angedeihen.
Yumi Alzawa in den Fängen des Todes in „La jeune fille et les morts“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Ähnlich rauschend fiel auch der Jubel für das letzte Stück aus – ein Gastbeitrag der inzwischen gemeinsam arbeitenden Choreographen und Tänzer des Ballet des Grand Theatre de Génève Simone Repele und Sasha Riva. In ihrem Pas de trois „LA JEUNE FILLE ET LES MORTS“ zeigen sie auf teils von Nebel verhangener Bühne und mit metallisch glänzenden Galgenstricken im Hintergrund titelgemäß ein junges Mädchen in weißem Kleid und Haube (von der ebenfalls in Genf tanzenden Yumi Alzawa mit Charisma und federleichter Attitude erfüllt), das nach und nach seine Unschuld verliert und in die Fänge des Todes in Doppelgestalt der beiden Tanzschöpfer selbst in schwarzen Hosen und schulterfreien Shirts gerät. Aus Verlockung wird Anziehung, aus Todesnähe schließlich ein leichtes Hinübergleiten ins Jensseits. Auf klassischer Basis mit fließenden Linien, schwingenden Armen, weiten Sprüngen und schwebend anmutenden Hebungen wird die Tragik in sanfte Verheißung überführt, das Mädchen schließlich mit im Wind flatterndem Kleid aller Erdenschwere entledigt ins Todesreich gehoben. Das Andante aus Franz Schuberts Streichquartett „Der Tod und Mädchen“ bildet die ideale thematische und musikalisch einfühlsame Grundlage. Alles in allem eine Kreation mit beachtlichem choreographischem und interpretatorischem Format.
Udo Klebes