Benjamin Grüter, Nina Siewert. Foto: Thomas Aurin
STUTTGART/ Schauspielhaus: IWANOW nach Anton Tschechow. 14.12.2019
Am Ende kein Ausweg
Tschechows Protagonist Iwanow ist ein Synonym für all die Gestrandeten unserer heutigen Gesellschaft, das Stück ist zeitlos. Dies arbeitet Robert Icke in seiner Inszenierung gut heraus, er ist auch für die Neubearbeitung dieses Stoffes verantwortlich. Ähnlich wie bei „Platonow“ treten die Protagonisten auch hier als gescheiterte Intellektuelle aus dem Kleinadel auf. Sie versinken in Tagträumen. Gerade dieser Aspekt kommt bei der Inszenierung zuweilen zu kurz. Und doch nimmt man viel von dieser problematischen Situation wahr. Der Titelheld Nikolas lebt mit seiner Frau Anna in einer Provinzstadt. Anna ist Jüdin, die für ihren Ehemann zum Christentum konvertierte und von ihren Angehörigen deswegen verstoßen wurde. Benjamin Grüter als Nikolas und Paula Skorupa als Anna arbeiten die Probleme dieses ungleichen Paares immer wieder packend heraus. Anna hat Krebs und wird nicht mehr lange leben. Lieben kann Nikolas sie nicht mehr. Er fühlt sich für nichts verantwortlich – und gleichzeitig begreift er die Veränderungen in seiner Psyche nicht. Robert Icke stellt die teilweise grotesken Veränderungen in dieser Gesellschaft drastisch heraus. Iwanow sagt zum Arzt: „Sie, lieber Freund, haben erst voriges Jahr Ihr Studium beeendet, Sie sind noch jung und guten Muts, ich bin fünfunddreißig. Ich habe das Recht, Ihnen Ratschläge zu erteilen…“ Und gleichzeitig rät er seinem Gegenüber auch, nicht zu heiraten. Er selbst ist ein problematischer und depressiver Charakter: „…Das Leben, das ich geführt habe,- wie ist es ermüdend!…ach, wie ermüdend!“ Iwanow erklärt dem Publikum unverblümt, dass er mit seiner Situation nicht zurechtkommt und sie nicht verstehen kann.
Foto: Thomas Aurin
In Ickes Inszenierung kommt es zu einer erheblichen dramaturgischen Steigerung. Man sieht die Gesellschaft der einzelnen Darsteller von oben, teilweise fährt die Kamera herab und filmt die Leute in Nahaufnahme (Video: Tim Reid). Zwischen Luftballon- und Konfetti-Regen offenbaren sich die gesellschaftlichen Brüche schroff und unvermittelt. Anstatt seiner Frau Anna beizustehen, flieht er ihre Gesellschaft und verbringt die Abende oft bei den Nachbarn, wo sich die von Nina Siewert überzeugend dargestellte Sascha heftig in ihn verliebt. Diese Szenen gehören überhaupt zu den besten dieser Aufführung. Gleichzeitig wächst das Schuldgefühl in Iwanow, weil ihm die unschuldige Sascha ein neues Leben verspricht. Doch er will sie letztendlich nicht heiraten, was endgültig zur Katastrophe führt. Denn er erschießt sich vor allen Leuten, die hilflos zusehen müssen. Dabei sieht man den blutüberströmten Leichnam zuletzt in Großaufnahme – eine aufwühlende Szene. Es gelingt Robert Icke hier packend, diesen entfesselten Erregungszustand einer ganzen Generation einzufangen.
In weiteren Rollen überzeugen durchaus Klaus Rodewald als Matthias, Michael Stiller als Peter, Marietta Meguid als Sinaida, Felix Strobel als Eugen, Christiane Roßbach als Marta und Peer Oscar Musinowski als Michael. Konsequenter Realismus und realistischer Symbolismus gehen auch bei dieser Inszenierung trotz mancher Schwachstellen eine klare Verbindung ein. Vor allem hinsichtlich der Personenführung gelingen dem Regisseur immer wieder bewegende Momente. Selbst die satirischen Zuspitzungen kommen hier nicht zu kurz. So werden die Frauen als „pralle Goldsäckchen“ bezeichnet, aber auch die Beschimpfungen untereinander sind derb und heftig: „Das Leben ist ganz und gar sinnlos!“ Das Problem des Antisemitismus wird ganz bewusst nicht ausgespart. D
ie Bühne von Hildegard Bechtler macht klar, dass man sich an einem Strand befindet. Rund um eine eckige Steinlandschaft sieht man Wasserflächen, durch die die Darsteller oft hindurchwaten. Und auch die Kostüme von Wojciech Dziedzic passen sich der Szenerie an. Das Sound Design von Joe Dines unterstreicht noch den melancholischen Charakter dieser seltsamen Atmosphäre, in der die Menschen letztendlich nicht zueinander finden. Das Problem ungelebten Lebens spricht Iwanow ganz bewusst an: „Wenn wir noch mal von vorn anfangen können, zurück an den Anfang, vielleicht könnte ich dann alles anders machen – Jugend – und ich könnte wieder zum Leben erwachen – von den Toten auferstehen.“ Im dritten Akt sagt Iwanow dann zu Sascha unverblümt: „Tag und Nacht plagt mich das Gewissen, ich fühle mich zutiefst schuldig, aber worin meine Schuld besteht, kann ich nicht begreifen…“ Die Langeweile in diesem provinziellen Landkreis ist das Hauptproblem. Hier gibt es kein Entrinnen.
Für die Darsteller gab es starken Schlussapplaus und „Bravos“. Das Publikum begriff die Doppelbödigkeit der Handlung, denn Iwanow verlässt als „lebender Toter“ zuletzt den Saal.
Alexander Walther