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STUTTGART/ Schauspielhaus: „EXTREM LAUT UND UNGLAUBLICH NAH“ von Jonathan Safran Foer als Live-Hörspiel

22.06.2020 | Theater


Felix Strobel, Gabor Biedermann. Foto: Björn Klein

Premiere des Live-Hörspiels „Extrem laut und unglaublich nah“ von Jonathan Safran Foer am 21. Juni 2020 im Schauspielhaus/STUTTGART

Geheimnisse des Lebens

„Ich finde, dass viele Dinge ziemlich merkwürdig sind.“ Der neunjährige Oscar versteht die Welt nicht mehr, seit er seinen Vater beim Anschlag auf das World Trade Center in New York verloren hat. Plötzlich fällt die Erde durch das All: „Ich kapier‘ nicht, warum wir existieren.“ Auf der Suche nach einem Türschloss läuft der vaterlose Oscar ziellos durch New York. In der durchaus subtilen Inszenierung von Bernadette Sonnenbichler und mit der intensiven Musik von Max Braun gewinnt diese von vielen unterschiedlichen Geräuschen lebende Aufführung plötzlich an Leben. Zitiert wird aus Briefen des Vaters: „An mein ungeborenes Kind…“ Oscar ist hier Sammler, Veganer, Pazifist, Perkussionist oder Amateur-Astronom. Immer wieder erlebt er Abenteuer und begegnet den unterschiedlichsten Menschen. Auf der mit Utensilien voll beladenen Bühne versucht Oscar krampfhaft und auch verzweifelt, den Grund für den sinnlosen Tod seines Vaters herauszufinden. Und hier ergeben sich bei der Aufführung auch elektrisierende Momente. Ergreifend ist außerdem die Geschichte seiner deutschen Großeltern, die nach der Bombardierung Dresdens nach New York geflüchtet sind. Diese unheimliche und grauenvolle Bombardierung gerät aufgrund raffinierter Geräuschkulissen überhaupt zum Höhepunkt der gesamten Inszenierung. Dabei sind die Darsteller Gabor Biedermann, Christiane Roßbach, Michael Stiller und Felix Strobel dem Publikum wirklich „unglaublich nah“. Der Opa wird zudem als guter Mensch geschildert, der bei jedem Tier angehalten hat, um es zu streicheln. Und die Großeltern haben rasch geheiratet. Zwischen kreischenden Leuten erscheint plötzlich wieder die Erinnerung an einen weiteren Brief des Vaters. Und die Mutter klärt den Sohn auf: „Ich hatte den Eindruck, dass dein Vater ein guter Mensch war. Er hatte einen unglaublich guten Blick.“ Oscar bittet um Vergebung, weil er auf die letzten Handy-Anrufe seines Vaters nicht reagieren konnte. Und die Mutter betont: „Ich werde mich nie mehr verlieben.“ Drei Schicksale einer Familie werden dabei in suggestiver Weise miteinander verwoben. Auf die Frage „Glaubst du, dass der Tod deines Vaters auch etwas Gutes für dich bedeuten könnte?“ antwortet Oscar mit großer Aggressivität und Ablehnung. Stellenweise hätte man sich bei dieser Inszenieurng zuweilen auch noch ein stärkeres Herantasten an psychologische Details gewünscht. So bleibt manches im Nebel und ist zu wenig plausibel: „Du brauchst eine Auszeit, Oscar!“ Oscar beschäftigt sich mit Shakespeares gesammelten Werken: „Nichts auf der Welt ist schön und wahr.“ Schließlich kommt es zu einer satirisch-sarkastischen „Hamlet“-Parodie, bei der die Schauspieler in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen. Die Konflikte zwischen armen und reichen Teilen der Gesellschaft eskalieren: „Ich spende viel Geld für wohltätige Zwecke!“ Schließlich kommt heraus, dass die Mutter sogar seine Geburtsurkunde gefälscht hat. Oscar ist zeitweise im seelischen Ausnahmezustand: „Die Scheide einer Afroamerikanerin stärkte mein Selbstbewusstsein.“ Das Stück ist eigentlich eine unbewusste Dschungel-Suche nach verlorenen Ereignissen und Menschen. Zuletzt läuft Oscars Leben wie ein rückwärts gedrehter Film ab: „Ich begriff nicht, dass er mein Opa war“. Alles wäre gut gewesen, wenn man die Dinge richtig zurückverfolgt hätte.    

Alexander Walther

 

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