Eduard Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännlein im Schauspielhaus Stuttgart
DRAHTSEILAKT DER LIEBE
Premiere: Eduard Mörikes „Stuttgarter Hutzelmännlein“ im Schauspielhaus am 21. Januar 2017/STUTTGART
Manja Kuhl, Peer Oscar Musinowski, Viktoria Miknevich, Christian Czeremnych, Felix Mühle. Copyright: JU
Mit dem „Stuttgarter Hutzelmännlein“ hat der Dichter Eduard Mörike enge regionale Grenzen ganz bewusst ausgeweitet. Das 1853 entstandene Werk wurde in Mörikes Freundeskreis aufgrund vermeintlicher formaler Schwächen getadelt. Die Regisseurin Hanna Müller versucht in ihrer Stuttgarter Inszenierung, den Stoff in einem weniger komplizierten Licht darzustellen. Denn diese Erzählung besitzt eine komplexe Struktur ineinander verschachtelter Handlungsstränge.
Der Stuttgarter Schustergeselle Seppe möchte auf Wanderschaft gehen. Christian Czeremnych stellt ihn als einen Utopisten und Idealisten dar, der sich allerdings leicht verführen lässt. Am Tag vor seiner Abreise erscheint ihm das Hutzelmännlein, das Gabriele Hintermaier mit knitzer Hinterlist und langem Bart spielt. Das Hutzelmännlein sitzt hier zunächst auf der Spitze des seltsam verschachtelten Holzgerüsts. Es gibt Seppe zwei Paar Glücksschuhe und Hutzelbrot. Seppe verwechselt die Schuhe jedoch miteinander und gerät plötzlich rettungslos in Verwirrung. Diese Situationskomik inszeniert Hanna Müller mit einem verschmitzten Augenzwinkern und viel Humor. Dass Seppe gegenüber dem Hutzelmännlein auch eine Verpflichtung hat, macht die Aufführung deutlich. Er soll ihm ein geheimnisvolles Klötzlein Blei bringen, das die Kraft besitzt, die Menschen unsichtbar zu machen. Seppes Nachbarin Vrone, die von Manja Kuhl mit viel Einfühlungsvermögen gespielt wird, muss sich genauso wie er mit einem falschen Schuh herumplagen. Zusammen mit der unverwüstlichen Vrone besteht Seppe jedoch viele Abenteuer. Manja Kuhl verwandelt sich aber auch in geheimnisvoller Weise in die schöne Lau. Die ist eine Wasserfrau vom Schwarzen Meer. Diese Fürstentochter ist halbmenschlicher Abstammung. Sie wurde von ihrem Mann, einem alten Donau-Nix nach Blaubeuren verbannt, denn sie gebar ihm nur tote Kinder. Manja Kuhl kann das Leid dieser schönen Lau bewegend auf die Bühne bringen. In einem Traum beginnt die Lau zu lachen. Der Kuss eines Jungen erweckt sie schließlich aus ihren Träumen. Manja Kuhl bietet bei ihrer ungewöhnlichen Darstellung der Wasserfrau viel Akrobatik, steigt in einen von der Bühne überdimensional herabhängenden Ring, der an Seilen hängt. Als Seppe endlich in Blaubeuren eintrifft, sind märchenhafte 100 Jahre vergangen. Von den Wirtsleuten im Nonnenhof erhält er weit mehr zurück, als er bezahlt hat – er kann seiner zukünftigen Braut Vrone sogar eine silberne Haube schenken. Auf dem Heimweg findet Seppe dann das gewünschte Zauber-Blei. Und die Glücksschuhe führen ihn und Vrone schließlich endgültig zusammen. Vor aller Welt sollen sich Seppe und Vrone nun küssen. Das ist eine sympathische Schluss-Szene, die viel Humor und Hintersinn besitzt. Die beiden Schauspieler gehen hier in ihren Rollen auf. Die Glückskinder scheinen sich am Ende wie auf einem Trapezseil durch die magische Kraft der Zauberschuhe zu treffen. Die nicht zerreißbaren Schuhe werden zwar verwechselt, lassen aber nun „verkehrtes Glück“ entstehen.
Für die wunderbaren Geschehnisse dieses Märchens findet Hanna Müller mit dem fantasievollen Bühnenbild von Natascha von Steiger und den Kostümen von Nina Gundlach und Birgit Klötzer ansprechende Bilder, die sich stark einprägen. Man blickt im Hintergrund gleichsam auf den Meeresgrund, sieht Fische, Krabben und Muscheln. Manja Kuhl scheint sich als schöne Lau mit diesen Utensilien zu verbinden. Vor allem die abwechslungsreiche Live-Musik von und mit Max Braun, Stefan Hiss, Bobbi Fischer, Daniel Kartmann und Jörg Bielfeldt zeigt nicht nur bei der Hymne an „Marie“ Verve und Drive.
Manja Kuhl, Christian Czeremnych, Viktoria Miknevich. Copyright: JU
In weiteren Rollen überzeugen Viktoria Miknevich als Kurt und Sara, Felix Mühlen als Dr. Veylland, Frau Betha Seysolffin, Frau Bläse und Bernd Jobsten sowie Peer Oscar Musinowski als Hirtenjunge, Jörg Seysolff, Witwe und Schustermeister Bläse. Jonas Alsleben blendet die Video-Sequenzen höchst geschickt ein. Auch die Luftakrobatik-Choreografie von Iryna Jerabek beeindruckt die Zuschauer.
Dass die Geschichte von der schönen Lau die Binnenhandlung dieses Märchens bildet, wird bei der Inszenierung plastisch deutlich. Sie spielt 100 Jahre vor der Seppe-Handlung. Und die Veylland-Episode findet zur Zeit des Grafen Konrad von Württemberg statt, als es noch „keine Stadt mit Namen Stuttgart gab“. In dieser poetischen Veylland-Episode wird dann der Gründungsmythos Stuttgarts beschrieben. Doktor Veylland konnte sich übrigens unsichtbar machen. In diesen Augenblicken verwandelt sich in Hanna Müllers Inszenierung die Bühne und wird märchenhaft. Der geheimnisvolle Zauber geht weiter, als man erfährt, dass Doktor Veylland im Sterben liegt. Er bittet seinen Diener Kurt, das Bleilot im Blautopf zu versenken. Und der Lau stiehlt ein frecher Hirtenjunge das Lot im Glauben, es sei Gold. Manja Kuhl zeigt deutlich, dass auch Vrones Leben durch die vertauschten Schuhe auf den Kopf gestellt wurden: „Besonders ging es ihr beim Tanz: da sah man sie zuweilen so conträre, wiewohl kunstreiche, Sprünge thun, dass Alles aus der Richte kam und sie sich schämen mußte.“ Nach der kuriosen Fasnachts-Episode lässt sich nicht mehr verbergen, dass Seppe sein Glück mit einem Mädchen aus der unmittelbaren Nachbarschaft geradezu finden musste.
Im Programmheft stößt man noch auf Brigitte Kronauers hintersinnige Rede auf Eduard Mörike. Da erfährt man dann, dass die beiden noch fast kindlich Liebenden aus dem Geiste Mörikes weltklüger sind als mancher, der nicht versteht, wie der Dichter Mörike in seinem Leben erotisch auf die Nase gefallen ist. Christian Czeremnych als Seppe und Manja Kuhl als Vrone setzen als Schauspieler gerade diesen Aspekt in fesselnder Weise um. Vor allem ist es weitgehend gelungen, den komplizierten Handlungsfaden zu entwirren. Entsprechend stark war der Schlussapplaus für alle Darsteller und das Regie-Team.
Alexander Walther