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STUTTGART/ Schauspielhaus: DIE SIEBEN TODSÜNDEN – Ballett mit Gesang von Kurt Weill. Text von Berthold Brecht. . Premiere

Die große Befreiung

02.02.2019 | Ballett/Performance

Josephine Köhler, Peaches. Foto: Berhard Weis
 
Premiere „Die sieben Todsünden“. Ballett mit Gesang von KurtWeill, Text von Bertold Brecht. Premiere am 2. Februar 2019 im Schauspielhaus/STUTTGART

DIE GROSSE BEFREIUNG
Der stärkste Teil des Abends ist zweifellos in der ersten Hälfte, wenn das Staatsorchester Stuttgart unter Leitung von Stefan Schreiber „Die sieben Todsünden“ von Kurt Weill mit dem suggestiven Text von Bertolt Brecht spielt. Anna-Sophie Mahler hat dieses Ballett mit Gesang (Fassung für tiefe Frauenstimme bearbeitet von Wilhelm Brückner-Rüggeberg) in einer Koproduktion von der Staatsoper Stuttgart, dem Stuttgarter Ballett und dem Schauspiel Stuttgart inszeniert. „Für die Mittellosen ist das Paradies die Hölle“, lautet die schroffe Erkenntnis von Bertolt Brecht in seinen „Hollywoodelegien“. Ähnlich ergeht es in den „Todsünden“ Anna, die von ihrer Familie (bestehend aus einem Quartett von vier Männerstimmen) auf eine skurrile Reise durch Tingeltangel und Kulturindustrie geschickt wird.
 

Das schicke Eigenheim soll mit den Mitteln der totalen Selbstausbeutung finanziert werden. Und so lebt ihr Geist in Abspaltung von ihrem Körper, was bei der Aufführung recht überzeugend zur Geltung kommt. Wir befinden uns in der Arena mit einem riesigen Boxring, in dem jeder gegen jeden kämpft. Die Komposition von Kurt Weill besitzt eine formal klare Gliederung, die Stefan Schreiber mit dem Staatsorchester Stuttgart plastisch herausarbeitet. Rhythmisch faszinierende und prägnante Momente werden immer wieder plastisch und explosiv betont. Epigrammatische Kürze und Schlagkraft findet sich bei den vielen Motiven in dieser Musik, die von der „King Kong Theorie“ von Virginie Despentes untermalt wird. Der dissonierend-expressive Charakter dieser aufwühlenden Harmonik wird von Schreiber und dem Staatorchester sehr gut betont. Chanson, Moritat, Tanzrhythmen und Jazzkolorit wechseln sich rasant ab. Man spürt gleichzeitig den glättenden Einfluss seines Lehrers Ferrucio Busoni. Dabei entdeckt man auch die Überwindung des klassischen Ideals durch eine junge Klassizität. Weills Musik vermittelt gleichsam zwischen extremen Polen, und die Bewegungen der Darsteller passen sehr gut zur kompositorischen Entwicklung.


Josephine Köhler, Peaches, Louis Stiens. Foto: Bernhard Weis

Dies zeigt sich vor allem bei den Balletteinlagen (Ballettmeisterin: Sonia Santiago). Die feministische Sängerin Peaches gestaltet hier die Anna mit großer Ausdruckskraft und Charakterisierungsreichtum. Die große und gewaltige Befreiung kommt für Anna dann beim schockierend-grellen Auftritt von Peaches bei „Seven Heavenly Sins“, wo in elektrisierender Weise der feministische Widerstand gegen die bestehenden „Macho“-Verhältnisse der Männerwelt eskaliert. Alles steht auf dem Kopf, Peaches geht konsequent einen sexuell progressiven Weg, der auch bei dieser ungewöhnlichen Performance in grell-rotem Neonlicht zur Geltung kommt. Die Protagonistin fährt auf einem Gerüst von oben nach unten. Elliott Carlton Hines, Josephine Köhler, Gergely Nemeti, Christopher Sokolowski, Florian Spiess, Louis Stiens und Melinda Witham unterstützen sie bei dieser Show im plötzlich vielschichtigen Scheinwerfer-Bühnenbild von Katrin Connan. Die Choreografie von Louis Stiens betont dazu die orgiastischen Tanztechniken in den Kostümen von Marysol del Castillo, die die Tänzerinnen halbnackt erscheinen lässt. Alles gerät in Ekstase, die Bühne verwandelt sich in einen emotionalen Aufruhr. Dazwischen sieht man Vagina-Kostüme und Led-Harnisch (Courtesy of Peaches Collection). Zuvor spricht Josephine Köhler in ihrem Monolog zu den „hässlichen Frauen“, zu jenen, die keine Kinder gebären und nicht heiraten können. Sie unterstreicht damit ihre eigene „Männlichkeit“. Zuletzt erklingt meditativ „The Unanswered Question“ von Charles Ives, nachdem das riesige Boxgerüst hochgefahren worden ist.


Christopher Sokolowski  Gergely Nemeti, Louis Stiens, Florian Spiess, Elliott Carlton Hines und Peaches Foto: Berhard Weis

Eine ältere Frau sinniert hier zu den Klängen der subtilen Komposition, die mit mehreren selbständigen musikalischen Schichten arbeitet. Die immer piano spielenden Streicher sprechen hier ganz konkret und direkt zur Darstellerin und den Zuschauern im Scheinwerferlicht. Reine Dreiklänge erklingen dabei in einem extrem langsamen Zeitmaß. Die gedämpfte Solo-Trompete intoniert sechs Mal die fragende Zweitaktphrase, wobei die Darstellerin sich langsam zur Musik auf den grellen Hintergrund zubewegt. Die dissonante Holzbläsergruppe bildet hierzu einen dynamisch reizvoll gestalteten Kontrast. Und beim siebten Mal bleibt jegliche Antwort aus. Dann geht das Licht ganz aus.

Obwohl die Inszenierung in einzelne Teile zuweilen ziemlich unvermittelt zerfällt, spürt man doch einen dramaturgischen Bogen, der sich insgesamt aufspannt. Das Publikum war begeistert.
 
Alexander Walther

 

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