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STUTTGART/ Schauspielhaus: DIE PHYSIKER von Friedrich Dürrenmatt. Premiere

Fliehen vor der Verantwortung

23.06.2019 | Theater


Klaus Rodewald, Marietta Mequid, Marco Massafra, Benjamin Pauquet. Foto: Thomas Aurin

Die Physiker“ von Dürrenmatt im Schauspielhaus Stuttgart. Premiere am 22. 6.2019

Fliehen vor der Verantwortung

 Bei Dürrenmatt gibt es oft Figuren, die in Schuld verstrickt sind. So ist es auch in der schwarzen Komödie „Die Physiker“, wo die Regisseurin Cilli Drexel die traumatischen Beziehungen der Personen durchaus plastisch herausarbeitet. Die Bühne von Judith Oswald deutet den beengten und in sich abgeschlossenen Raum an (Kostüme: Janine Werthmann). In der Privat-Heilanstalt für nervengeschädigte Millionäre rekonstruiert Kriminalinspektor Voß einen Mordfall. Denn die Krankenschwester Irene Straub ist von dem Physiker Ernst Heinrich Ernesti (der sich für den Physiker Albert Einstein hält) mit einer Stehlampenschnur erdrosselt worden. Schon zuvor war die Krankenschwester Dorothea Moser von dem Patienten Herbert Georg Beutler (der glaubt, er sei der Physiker Isaac Newton) ermordet worden. Ins Irrenhaus flieht auch der Kernphysiker Möbius vor seiner Verantwortung, denn er hat eine furchtbare Formel entdeckt. Nur in der Psychiatrie ist er noch frei, in der Öffentlichkeit wären seine Gedanken längst Sprengstoff. Einstein und Newton entpuppen sich hier als Agenten zweier konkurrierender Geheimdienste, die sich ebenfalls als geisteskrank ausgegeben haben. So können die diplomatischen Verhandlungen über die Geschicke der Welt beginnen. „Was einmal gemacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“, lautet die Devise.


Marco Massafra, Klaus Rodewald, Amina Merai. Foto: Thomas Aurin

Marietta Meguid spielt die Rolle der Frau Doktor Mathilde von Zahnd als beklemmende Charakterfigur, die sich aber immer mehr in die Wahnvorstellungen ihrer Patienten hineinsteigert. Gabriele Hintermeier liefert als Oberschwester Marta Boll ebenfalls eine eindringliche Porträtstudie. Amina Merai brilliert als Krankenschwester Monika Stettler, die in Herbert Georg Beutler (facettenreich: Benjamin Pauquet) verliebt ist, doch von diesem schließlich erdrosselt wird. Auch Klaus Rodewald als Ernst Heinrich Ernesti genannt Einstein und Marco Massafra als Johann Wilhelm Möbius können das Publikum aufgrund ihres eindringlichen Spiels fesseln. Deutlich wird hier vor allem, dass sich der Physiker Möbius ins Irrenhaus zurückgezogen hat, um die Welt vor seinen Entdeckungen zu schützen. Möbius gelingt es,  die beiden Agenten, die sich sein Wissen aneignen wollen, davon zu überzeugen, mit ihm im Irrenhaus zu bleiben. Zuletzt geht der Plan nicht auf, weil sich die Leiterin des Sanatoriums Mathilde von Zahnd als wahnsinnig entpuppt. Diese Szene gelingt Marietta Meguid besonders gut. Sie kann herausarbeiten, dass sie die einzig wirklich Irre in diesem Stück ist. Durch die Beziehung zu ihrem Vater hat sie eine schwere Persönlichkeitsstörung: „Er hasste mich, wie die Pest, er hasste überhaupt alle Menschen wie die Pest. Wohl mit Recht, als Wirtschaftsführer taten sich ihm menschliche Abgründe auf, die uns Psychiatern auf ewig verschlossen sind…“ 

So kommt es zur schlimmstmöglichen Wendung. Michael Stiller mimt den Kriminalinspektor Voß zunächst glaubwürdig mit stoischer Ruhe, doch es gelingt der verrückten Ärztin von Zahnd, ihn schließlich so aus der Reserve zu locken, dass er stellenweise ebenfalls durchdreht. Diese Szenen glücken der Regisseurin Cilli Drexel am besten. Mathilde von Zahnd schockt ihre Umgebung mit Wutanfällen und cholerischen Ausbrüchen, um sich dann wieder ganz zurückzunehmen. Eine weitere zentrale Szene in dieser durchaus  komplexen Inszenierung bildet der Auftritt von Gabriele Hintermaier als Frau Missionar Lina Rose, geschiedene Möbius. Sie will ihren ersten Mann, den berühmten Physiker (der sich einbildet, seine genialen Gedanken vom König Salomo zu empfangen) von der Trennung seiner Ehe informieren. Es kommt so auch zu einer erschütternden Begegnung mit seinen Kindern Adolf-Friedrich, Wilfried-Kaspar und Jörg-Lukas (Nikolai Krafft/Jan Rohrbacher, Jannis Wetzel/Malte Bernstein und Vitus Glass/Jannis Memmersheim in verschiedener Besetzung bei den einzelnen Vorstellungen). Gelegentlich wird die Bühne  abgedunkelt, so entstehen kurze szenische Brüche, die die Spannungskurve steigern.

Die Musik von Bärbel Schwarz unterstreicht diesen Aspekt. Gemeinsam ist allen Protagonisten, dass sie vor ihrer Verantwortung fliehen. Hier setzt die Inszenierung von Cilli Drexel an, denn sie unterstreicht damit die aktuelle Gesellschaftskritik. Der Staat ist in der Krise, die Presse versagt, das gesellschaftliche Klima ist vergiftet. Dürrenmatts sarkastische und boshafte Kritik an intellektuellem Wahn und gnadenlosem Profitstreben wird so auf die Spitze getrieben. Gelegentlich hätte die Inszenierung dieses Klima noch stärker akzentuieren können. Die Wissenschaftskritik Dürrenmatts weist auf „Wissen ist Macht“ von Francis Bacon hin. Auch die aufklärerische Vorstellung „Wissen ist gut“ spielt bei dieser Aufführung eine zentrale Rolle. Wo ist die Grenze seriöser Wissenschaft? Wann wird die Wissenschaft zum Verbrechen? Und warum wird Gott verleugnet? „Was alle angeht, können nur alle lösen“, meint Friedrich Dürrenmatt hinsichtlich seiner „Physiker“. Gerade bei diesem zentralen Punkt versagt die Gesellschaft völlig. Zuletzt  sind die drei männlichen Patienten mit der verrückten Ärztin wieder ganz allein. Die Bühne ist zweigeteilt, Frau Doktor Mathilde von Zahnd sitzt im Keller, raucht eine Zigarette. Das Licht geht aus.

Es gab „Bravo“- und „Buh“-Rufe, die begeisterte Zustimmung des Publikums überwog.

Alexander Walther

 

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