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STUTTGART/ Schauspielhaus: DIE ERZIEHUNG DES RUDOLF STEINER. Eine ungewöhnliche Perspektive

13.10.2024 | Theater

„Die Erziehung des Rudolf Steiner“ am 12.10.2024 im Schauspielhaus/STUTTGART

Eine ungewöhnliche Perspektive

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Samuel Santangelo (Kind Rudolf Steiner). Foto: Thomas Aurin

 Rudolf Steiner erscheint hier in einer neuen Sichtweise. Und zwar nicht als Waldorf-Oberlehrer, sondern in erster Linie aus der ungewöhnlichen Perspektive eines Kindes mit Namen Flinn: „Warum kommt ihr immer ins Theater zurück?“ Dabei tritt der für Steiner so wichtige Bezug zu Goethe deutlich hervor: „Ihr kommt immer und immer wieder – manchmal sogar zu einem Stück, das ihr schon mal gesehen habt! ‚Faust‘ habt ihr bestimmt schon eine Million Mal gesehen. Warum macht ihr das?“ Er tritt zuletzt aber auch als alter Mann in Gestalt des Schauspielers Reinhard Mahlberg auf. Das Kind spricht von sich und seiner Entwicklung. In der subtilen Regie von Dead Centre (Ben Kidd, Bush Moukarzel) lässt man die Jugendzeit Steiners in imaginärer Weise Revue passieren. Natürlich geht es um die „geistige Welt“ und den „Ätherleib“ – die Worte wirken sehr gewählt, aber nicht aufgesetzt. Flinn Naunheim vollbringt hier trotz seines zarten Alters eine sehr erstaunliche darstellerische Leistung. Die Bühne von Jeremy Herbert taucht das Geschehen in eine Welt, die der anthroposophischen Sichtweise durchaus nahe kommt. Da sieht man dann Rudolf Steiners Eltern, die plötzlich verschwinden. Selbst die Koitusbewegungen bei der Zeugung des Kindes werden nicht ausgespart. Aber alles wirkt irgendwie nicht immer real, sondern sehr imaginär. Der Zuschauer befindet sich plötzlich in anderen Sphären. Die Mutter mimt sogar Gretchen und wird sich am Ende mit ihrem Kind wieder ganz verbinden. Das geschieht auch mit Hilfe raffinierter technischer Tricks mit den anderen Personen, die sich plötzlich scheinbar in Luft auflösen. Die Zauberwesen nehmen Gestalt an. Und ein visueller Höhepunkt ergibt sich zuletzt beim dargestellten Brand des ersten Goetheanums in Dornach im Jahre 1922. Hier stellen Bäume den gigantischen Holzbau dar, der den Flammen zum Opfer fiel. Leider war es Brandstiftung.

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Philipp Hauß, Therese Dörr, Reinhard Mahlberg. Foto: Thomas Aurin

Die Kostüme von Mirjam Pleines und die suggestive Musik von Kevin Gleeson passen sich dem Geschehen an. Die Visionen des Reformpädagogen werden offen angesprochen, Steiners Aufsatz über „Die vier Glieder menschlichen Wesens“ aus dem Jahre 1907 steht im Programmheft. Eine weitere starke Begegnung hat das Kind Rudolf Steiner dann mit dem bereits wahnsinnig gewordenen Philosophen Friedrich Nietzsche, dessen Ideen ihn zu seiner späteren Philosophie inspirierten. Steiner schrieb auch ein Nietzsche-Buch und arbeitete im Nietzsche-Archiv in Weimar. Die Gedanken kreisen um den Empfindungs- und Astralleib, der im menschlichen „Ich“ gipfelt. Laut Steiner ändert sich unter dem Einfluss des „Ich“ die Physiognomie. Darauf nimmt diese Inszenierung Bezug. Seelische Wandlungen begleiten körperliche Veränderungen. Natürlich wird im Stück die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart im Jahre 1919 angesprochen, aus der die weltweite Waldorfschulbewegung hervorging. So erscheint auch Emil Molt als erfolgreicher Zigarettenfabrikant, der als Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik die Initiative einer zukunftsorientierten Schulbildung ergriff. Zur Verwirklichung dieses Vorhabens wandte er sich an Rudolf Steiner. Diese Szene wird im Stück nicht ohne Ironie erzählt. Der Esoterik-Star Rudolf Steiner kann sich in Szene setzen, Flinn Naunheim leiht ihm mit einer für dieses Alter erstaunlichen Reife seine Stimme. Dass Steiner eigentlich kein Prophet sein wollte, wird oft vergessen. Die übrigen Schauspieler Therese Dörr, Philipp Hauß, Mina Pecik und Felix Strobel zeichnen hier die Gestaltung des sozialen Lebens in ganz unterschiedlicher Weise nach. Rationalität und Mystik werden durchaus in das szenische Geschehen integriert. Die Umwandlungen in allen Dingen sind dabei in Steiners Sinn nachvollziehbar. Gleichzeitig wird Steiner im Zusammenhang mit rassistischen Vorwürfen im Stück in Schutz genommen. Die Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf bezeichnete Rudolf Steiner als „ein ganz merkwürdiges Phänomen, das man versuchen sollte, ernst zu nehmen.“ Das ist dieser Inszenierung gelungen, die Steiners Glaubenstheorie eigentlich nicht realitätsfremd darstellt. Dass er als Prophet vergöttert wurde, kann man zwar nachvollziehen. Die Sichtweise tritt aber nicht störend in Erscheinung. Gelegentlich hätte man sich eine noch stärkere Verbindung des jungen mit dem alten Rudolf Steiner gewünscht. Das aktuelle Zeitgeschehen rund um Corona wird direkt angesprochen. Impfgegner kommen engagiert zu Wort, die Probleme des Corona-„Lockdowns“ werden grell überzeichnet. Das alles geschieht nicht ohne eine fast satirische Zuspitzung. Die Inkarnationen werden unter dem gigantischen Nachthimmel konsequent zurückverfolgt. Dabei erfährt man, dass es nicht nur um Rudolf Steiner geht. Hinzu kommen die facettenreichen Video-Sequenzen von Sebastien Dupouey. Diese Arbeit von Dead Centre wird gefördert durch Zeitgeist Irland 24, eine Initiative von Culture Ireland sowie der irischen Botschaft in Deutschland. Für diese bis auf wenige Abstriche weitgehend geglückte Uraufführung gab es begeisterten Schlussapplaus des Publikums. Die Kinderstatisterie wird in weiteren Aufführungen noch ergänzt von Levin Raser und Samuel Santangelo. 

Alexander Walther

 

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