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STUTTGART/ Schauspielhaus: DER WÜRGEENGEL nach dem Film von Luis Bunuel

27.10.2020 | Theater


Copyright: Thomas Aurin

„Der Würgeengel“ nach dem Film von Luis Bunuel am 26.10.2020 im Schauspielhaus/STUTTGART

EINE SCHLACHT GEGEN ALLE

In der Inszenierung des Ungarn Viktor Bodo und der groß angelegten Bühne von Lili Iszak (Kostüme: Fruszina Nagy) erreicht die Handlung nach dem Film „Der Würgeengel“ von Luis Bunuel eine ungeahnte Intensität. Mehrere Gäste versammeln sich hier in einem großen Konferenzsaal. Die Protagonisten in der Übersetzerkabine haben alle Hände voll zu tun. Es gibt deutliche Bezüge zur aktuellen Corona-Pandemie. Video-Einblendungen zeigen Angela Merkel, Vladimir Putin oder Boris Johnson. Doch per Zoom kann man Merkel auf einmal nicht mehr hören. Die Bediensteten ergreifen die Flucht, stürzen, lassen ständig das Tablett fallen, werden von den Anwesenden ausgelacht. Die können jedoch ihre Plätze nicht verlassen, nachdem sie sich einmal gesetzt haben. Der EU-Gipfel in Brüssel gerät zum Fiasko, denn die beteiligten Personen verlieren die Fassung und geraten außer sich. Bunuel schildert eindringlich einen Lockdown im Haus der Nobiles. Hier steigern sie sich rasch in Wahnvorstellungen hinein, plötzlich entsteht eine unsichtbare Mauer, die die Gesellschaft trennt. Nach einem Stromausfall breitet sich auch noch Angst aus. Da stürzen die Schranken bürgerlicher Konventionen krachend zusammen. Eifersuchtsszenen, verbale Entgleisungen („Ich hasse euch!“), körperliche Gewalt und eruptive Ausbrüche überfallen den Zuschauer mit Urgewalt. Ein Mann stirbt, ein junges Paar begeht Selbstmord.

Aber nach wenigen Tagen löst sich diese seltsame Lähmung auf, denn die Menschen verlassen ihr vermeintliches Gefängnis durch eine offene Tür. Zuvor hatten sie sich in eine totale Trance hineingesteigert, die Bühne drehte sich. Das Publikum wird bei der Inszenierung von Viktor Bodo ganz bewusst mit der Sphäre des Irrationalen konfrontiert. „Die Welt wird immer absurder“, so Luis Bunuel. Nur er sei weiter Katholik und Atheist. „Gott sei Dank!“ meinte Bunuel. Michael Stiller hat als exaltierter Politiker Edmund Nobile hier zusammen mit seiner Frau Lucia (facettenreich: Sylvana Krappatsch), die wie Ursula von der Leyen aussieht, seine liebe Not mit dieser unglaublich schwierigen und illustren Gesellschaft, die ihm so sehr auf die Nerven geht, dass er plötzlich anfängt, zu schreien und sich permanent aufzuregen. Als Lucias „Affäre“ überzeugt ferner Peer Oscar Musinowski. Christiane Rossbach mimt recht souverän die Sängerin Silvia Carell, der die Luft wegbleibt. Sie nimmt den von Klaus von Heydenaber suggestiv gemimten Dirigenten und Pianisten Roland Spitzweg gehörig aufs Korn, als sie ihm beim Spiel einfach das Klavier wegschiebt. Als Angestellte bei den Nobiles liefert auch Celina Rongen ein geglücktes Charakterporträt. Valentin Richter kann dem Studenten Benedikt Löwenfels ebenfalls deutliche Statur geben. Als seine Freundin Beatrice Heidelbach überzeugt zudem Amina Merai. Alle Darsteller machen deutlich, dass sie nicht aus ihrer Haut können. Reinhard Mahlberg kämpft als Arzt Dr. Victor Conde gegen die unglaublichen Neurosen dieser dekadenten und von Luis Bunuel gnadenlos bloßgestellten Gesellschaft an, die sich immer nur selbst genügt.


Copyright: Thomas Aurin

Der Regisseur Viktor Bodo unterstreicht bei seiner Inszenierung sehr deutlich die scharfe Gesellschaftskritik und weckt bewusst grelle Assoziationen zu unserer augenblicklichen Ausnahmesituation. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die Musik von Klaus von Heydenaber (Komposition), dem suggestiven Sounddesign von Gabor Keresztes und dem Video von Vince Varga. Hier erreichen die Gesichter der Protagonisten überdimensionale Ausmaße. Das Alptraumhafte und Surrealistische bekommt vor allem am Schluss elektrisierende Siedegrade – wenn etwa riesige Schafe in einer Art Feuerwall auf den Betrachter zukommen und die gesamte Bühne in Flammen aufzugehen droht. Da denkt man dann unweigerlich auch an Luis Bunuels berühmten Film „Ein andalusischer Hund“. Gleichzeitig weckt Bunuel immer wieder Assoziationen zur absurd-gruseligen Welt des Marquis de Sade. Der philosophische Roman wird so in grausamer Weise ad absurdum geführt. Hier trifft er sich mit Pier Paolo Pasolini. Stellenweise driftet Viktor Bodos Inszenierung aber ins Klamaukhafte ab, die Schauspieler toben nur noch herum. Das ist schade, da wird viel Potenzial verschenkt. Die Bilder verblassen, verlieren plötzlich ihre magische Wirkungskraft. Es ist eine Welt, in der Gott tot ist. Das Trostlose gipfelt in Menschenverachtung: „Sie stinken wie eine Hyäne!“ Nebel zieht herauf, unterstreicht das unheimliche Ambiente der seltsamen Szenerie. Es wird getanzt, aber die Ausgelassenheit endet in Verzweiflung. Das grenzenlose Vertrauen in die natürlichen Fähigkeiten des Menschen schwindet. Für Bunuel ist Gott der Schuldige, nicht der Mensch. Das Volk verliert seine Freiheit. 1962 drehte Luis Bunuel dieses schwierige Meisterwerk.          

Alexander Walther

 

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