Stuttgarter Ballett: NOVERRE: JUNGE CHOREOGRAPHEN 25.05.2024 (Schauspielhaus) – Erzählungen in allen Schattierungen
So wie es Projektleiterin und Organisatorin Sonia Santiago bei ihrer ausführlichen zweisprachigen Moderation erwähnte, dominieren beim diesjährigen Jahrgang der ausgewählten Jungen Choreographen nach vielen Jahren mehrheitlich abstrakter Beiträge und kürzerer Tanznummern erzählte Geschichten zu allerlei aktuellen Aspekten unserer Welt, die die Nachwuchs-Tanzschöpfer beschäftigen. In vielfältigster Form vom klassisch grundierten Prinzip bis zum freiheitlichen Tanztheater sind keine Grenzen gesetzt.
Zu Beginn präsentierte sich mit Carlos Strasser sogleich ein Multitalent. Der derzeit seinen Abschluss an der John Cranko Schule machende und bereits im Rahmen einer Fernseh-Dokumentation vorgestellte 20jährige zeichnet in seinem Stück „ZWISCHEN WIND UND ASPHALT“ außer der Choreographie auch für sein selbst rezitiertes Gedicht und die eigens geschriebene Musik mit ihm am Flügel verantwortlich. Darin thematisiert er das vielfach verloren gegangene Beobachten und die Lautmalerei unserer Natur, den Eingriff in eine Idylle übersetzt in knappe tänzerische Bewegungen und Gesten. Dass seine beiden Mitschüler Yana Peneva und Carter Smalling dies sehr präzise und locker visualisieren, tritt angesichts der vielleicht unbewussten Fokussierung auf die Faszination der vielseitigen künstlerischen Präsenz Strassers manchmal etwas in den Hintergrund. In allen Komponenten sehr stimmig und einfühlsam, fehlt es nur an einer dem Tanz zuträglicheren besseren Balance.
Aoi Sawano und Dorian Plasse in „Le piège de Gaspard. Foto: Stuttgater Ballett
Der ebenfalls 20jährige Corps-Tänzer Emanuele Babici hat sich schon mit seinem choreographischen Erstling als heutzutage auffallender Nachkomme auf der Schiene klassischer Handlungswerke vorgestellt. In „LE PIEGE DE GASPARD“ bedient er sich des vielfach behandelten Teufels in Menschengestalt im Rahmen einer Kurzgeschichte, in der der titelgebende Gaspard einer jungen Frau (Eloise) eine Falle stellt, in dem er ihr durch seine Bediensteten Ondine und Scarbo ihre Seelen abzuluchsen versucht. Mit all ihrer Kraft gelingt es der Bedrängten auch im Bett den bösen Geist zu verbannen. Elisa Ghisalberti, Satchel Tanner, Aoi Sawano und Dorian Plasse zeigen sich dabei im flüssigen neoklassischen Stil kombiniert mit Charakteransätzen allesamt vielversprechend als mögliche Erste Solisten von morgen. Zwei live von Louis Lancien am Flügel gespielte Klavierpiecen von Alfredo Casella und Maurice Ravel bilden das teils recht virtuose und den Tanz intensiv stützende musikalische Gerüst. Mit schnellem Dekorswechsel zwischen den Szenen ist das alles in allem eine anschaulich, kurz und knapp auf den Punkt gebrachte Ballett-Kurzgeschichte.
Alessandro Giaquinto, Flemming Puthenpurayil und Christopher Kunzelmann in „10 Minutes of Silence“. Foto: Stuttgarter Ballett
Der Titel „10 MINUTES OF SILENCE“ wird in Martino Semenzatos Kreation Wirklichkeit und lässt die Aufmerksamkeit ganz auf das Experiment richten, in dem einer von drei Männern zwei mit glattgegelten Haaren wie leblos wirkende Körper zu immer wieder neuen skulpturenartigen Gebilden am Boden umschichtet, Arme und Beine neu verbiegt und so eine ungewöhnliche Einblicke gewährende Herangehensweise bietet. Erst wenn die Auftragskomposition „After the silence“ von Yair Karelic ertönt, erwachen die beiden „Leichen“ zum Leben, verlagern ihre Umschlingungen nach oben, ehe sie am Schluss wieder zusammenfallen. Für die drei Halbsolisten Flemming Puthenpurayil, Alessandro Giaquinto und Christopher Kunzelmann (die ersteren beiden verlassen zum Spielzeitende leider die Compagnie) eine gute Gelegenheit auf eine neue Art körperliches Profil wirken zu lassen.
Umhüllt von elektronisch wummernden Science fiction Klängen (Auftragskomposition „The Journey“ von Levent Gediz) lässt Corps Tänzer Noan Alves ein Paar im weißen bzw. roten Ganzkörpertrikot im runden Lichtkreis ein rasch wechselndes Kaleidoskop aus ungewöhnlichen Hebe- und Schleifaktionen vollführen ehe sie sich buchstäblich im Blubber-Schleim (der Dreck, der Abschaum unserer Welt?) suhlen. Letzteres am Rande des Akzeptablen und mit einem deutlichen Buh-Ruf quittiert, machen die Corps Tänzer Abigail Willson-Heisel und Mitchell Milhollin rein tänzerisch betrachtet gute Figur und sind für ihren recht lockeren Umgang mit Widerlichem nur zu bewundern.
Veronika Verterich und Clemens Fröhlich in „Heaven sent“. Foto: Stuttgarter Ballett
Vom Himmel geschickt ist der schon mehrfach erfahrene Halbsolist Adrian Oldenburger als Choreograph mit seinem Gespür, klassische Tradition ins Zeitlose zu übertragen, und auch jetzt wieder an Cranko erinnernd, in „HEAVEN SENT“ mit hohen Hebungen und fließendem Schrittmaterial eine kleine Geschichte in vielen Details abheben zu lassen. Hier ist es eine gestorbene Frau (zuerst in schwarz, dann in weiß), die in einer Lichtschneise zur Himmelspforte kommt und sich trotz des sie empfangenden und geleitenden Engels noch gegen ihr Ableben wehrt. Die Solisten Veronika Verterich und Clemens Fröhlich bringen das in einem zu mehreren passend berührenden vokalen und instrumentalen Musikstücken auf den Punkt gebrachten Pas de deux mitfühlend und als Paar tänzerisch auf Augenhöhe zum Ausdruck.
Die weiteren Beiträge stammen von Gast-Choreographen. Zunächst „AND SO AM I“ von Neshama Nashman. Die beim Ballett am Rhein Düsseldorf tanzende Kanadierin zeigt, angeregt von einem Gedicht von Mahmoud Darwisha, wie zwei Menschen, die sich kennenlernen auf verschiedene Art miteinander konfrontiert sind. Mit sich selbst, aber auch in diversen Abhängigkeiten. Die wie Zwillinge wirkenden Corps Tänzerinnen Aoi Sawano und Irene Yang verdichten diesen Ansatz zu strengem, sich in den Stimmen überlagerndem A cappella-Chorgesang mit reichhaltigem, auf Dauer fast etwas zu mechanisch wirkendem Arm-Vokabular und Kopfhaltungen in Form eines etwas in die Länge gezogenen Tanztheaters.
Der vor dem Krieg aus der Ukraine in die die Niederlande geflohene Vladyslav Detiuchenko nutzte das Podium für die Studie eines Paares zwischen Wirklichkeit und Fiktion in bedrohlicher, Psycho artiger Klangkulisse. In „STAND BY ME“, kostümtechnisch und musikalisch unterstützt von Künstlern aus der Heimat, tritt eine Frau in der Sehnsucht nach der Wiederkehr ihres Mannes bei ihren Erinnerungen mit den Geistern der Vergangenheit in Kontakt. Ruth Schultz und Macéo Gérard verdichten das mit intensivem Ausdruck und in einer klassische Anleihen und Schauspiel durchaus spannend verschmelzenden Choreographie vor allem ihrerseits intensiv bezwingend.
Das Finale gehörte dem langjährigen Ersten Solisten des Hamburg Balletts Edvin Revazov, mit verschiedenen Gastarbeiten bei mehreren Compagnien eigentlich kein Jung-Choreograph mehr. Als einziger diesjähriger Beitrag setzt er auf keine Handlung, mehr auf das abstrakte Aufbrechen und neue Zusammenfügen einer musikalischen Struktur. Ausgesucht hat er sich dafür den Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“. Die sieben Tänzer des 2022 von Revazov für ukrainische Flüchtlinge gebildeten Hamburger Kammerballets, ergänzt durch Hamburgs ehemaligen Ersten Solisten Alexandre Riabko demonstrieren in „UNBOUND“ zunächst Geschlossenheit als Gruppe in festen Paar-Verbindungen, dann in einzelnen kurzen Pas de deux, die sich am Ende im Zuge von Beethovens ersterbender Motivik auflösen und nur noch eine Frau zurücklassen. Mit feinfühliger Hand und musikalischer Sensibilität überbrückt Revazov die zum Schluss etwas ermüdende Konzentration auf ein forderndes Programm.
Mit mehr oder weniger starken Begeisterungsrufen wurden alle Mitwirkenden belohnt. Noch bis kommenden Samstag ist das Programm als Live-Stream auf der website des Stuttgarter Balletts und dem Youtube Kanal verfügbar.
Udo Klebes