Premiere „Annette, ein Heldinnenepos“ von Anne Weber am 5. November im Schauspielhaus/STUTTGART
Algerien wird befreit
Sylvana Krappatsch, Peter Fasching. Foto: Thomas Aurin
Anne Weber hat für ihren Roman „Annette, ein Heldinnenepos“ 2020 den Deutschen Buchpreis erhalten. Sie erzählt hier die aufregende Geschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, genannt Annette. „Camus war friedlich, Annette war es nicht“, so heißt es im Roman. Es gibt auch immer wieder feministische Ansätze, die an Simone de Beauvoir denken lassen. Dusan David Parizek hat in seiner Inszenierung der Theaterfassung das Wesen dieser ungewöhnlichen Frau minuziös herausgearbeitet. 1923 wird sie in der Bretagne geboren und ist das einzige Kind überzeugter Kommunisten. Als die Deutschen im Jahre 1940 Frankreich besetzen, geht sie in die Resistance. Sie lehnt sich leidenschaftlich gegen jede Form von Ungerechtigkeit auf. Sie rettet zwei Jugendliche einer jüdischen Familie und wird nach dem Krieg Ärztin. Die wandlungsfähigen Schauspieler Sarah Franke, Josephine Köhler, Sylvana Krappatsch und Peter Fasching schlüpfen hier in verschiedene Rollen und machen in Kostümen von Kamila Polivkova diese Menschen in ergreifender Weise lebendig. Vor allem Josephine Köhler überzeugt mit ihrer farbenreichen Stimme bei den musikalischen Einlagen von Peter Fasching. Der kleine Fischerort in der Bretagne wird so überaus lebendig.
Und es ist die Literatur, die Annette mit dem Widerstand in direkte Berührung bringt. Es handelt sich dabei um den Roman „La Condition Humaine“ („So lebt der Mensch“) von Andre Malraux. Annette lernt Leute kennen, die sie mit Mitgliedern der kommunistischen Resistance bekannt machen. Dann beginnt sie, Medizin zu studieren. Im Untergrund lernt sie Roland kennen und lieben. Aber von nun an findet ihr Leben immer mehr im Untergrund statt. Diesen Wandlungsprozess vermag die Inszenierung in drastischer Weise zu verdeutlichen. Roland, ihre große Liebe, wird schließlich gefasst, deportiert, gefoltert und ermordet. Das dramatische Geschehen steigert sich hier auch dramaturgisch in geschickter Weise. Bei ihrer zweiten Liebe Jo scheint alles zu stimmen. Er ist Kommunist wie sie und sie kämpfen beide für eine gerechte Sache. Annette wird Mutter von drei Kindern und kämpft diesmal als Französin erneut im Widerstand. Sie steht auf der Seite der Algerier und streitet für die Unabhängigkeit Algeriens und für den Sozialismus. Algerien wird schließlich befreit – aber es gibt viele Opfer. Die brennende Frage, was eigentlich einen Menschen in den Widerstand treibt, wird bei dieser Aufführung nicht unbedingt beantwortet. Annette schlägt das viereckige Holzgebäude in Stücke, das so etwas wie ihre Heimat werden sollte. Die Holzpfähle krachen schließlich heftig auf den Boden. Damit wird auch die zerstörte Utopie symbolisiert. Sarah Franke und Sylvana Krappatsch scheinen sich in die Figur Annette aufzuspalten. Das intensive Spiel ergänzt sich trotz mancher dramaturgischer Schwächen gegenseitig. Im Hintergrund sieht man Zeugnisse des Hitler-Faschismus – Menschen mit Hakenkreuzen auf dem Rücken. Das deutsche Besatzungsregime kämpfte in Frankreich gegen die Widerstandskämpfer, die sie als „Juden und Bolschewisten“ bezeichneten. Es gab im Jahre 1941 eine Verhaftungsaktion mit standrechtlichen Erschießungen. Alles gipfelte in der „Endlösung der Judenfrage“. Auf der anderen Seite erkennt man den triumphalen Auftritt von Charles de Gaulle in Paris. Die Welt ist gespalten. Annette scheint wirklich in einer anderen Zeit zu agieren, sie nimmt für ihr unbedingtes Engagement große Gefahren in Kauf. Zugleich ist ihr Gerechtigkeitsempfinden stark ausgeprägt. Ihr Vater nennt ihre Mutter „meine Suffragette“. Die Eltern haben ihr das Widerstandsdenken vorgelebt. Tyrannen haben keine Chance. Der kämpferische Geist kommt in dieser Inszenierung recht gut zum Vorschein, Und auch die revolutionären Passagen erinnern an die Französische Revolution. Gerade durch den Krieg geraten die Menschen in eine Heldenrolle.
Das Publikum reagierte jedenfalls begeistert und feierte das Ensemble.
Alexander Walther