Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

STUTTGART/Schauspiel Nord: RAGE

09.04.2019 | Theater


Otiti Engelhardt. Foto: Gianmarco Bresadola

„Rage“ von Simon Stephens am 8.4.2019 im Schauspiel Nord/STUTTGART

Welten prallen aufeinander!

In der suggestiven Regie von Sophia Bodamer prallen im Stück „Rage“ von Simon Stephens in einer Stadt an Silvester Welten aufeinander. Die überzeugenden Darsteller Claus Becker, Otiti Engelhardt, Laurenz Lerch, Konrad Mutschler, Antonije Stankovic, Carina Anna Thurner, Laura-Sophie Warachewicz und Antonia Wolf (allesamt Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart) geraten rasch in die absurdesten Situationen. Die erotischen Annäherungen zweier Geschwister, gewalttätige Streitereien und Raufereien unter betrunkenden Menschen sind hier an der Tagesordnung. Vor allem die schmerzhaften Auseinandersetzungen mit der Polizei stehen drastisch im Zentrum des Geschehens. Menschen klammern sich zum einen rauschhaft aneinander, ein anderes Mal stehen sie sich wieder fremd gegenüber.


Konrad Mutschler, Antonia Wolf, Laura-Sophie Warachewicz, Carina Anna Thurner. Foto: Gianmarco Bresadola

Allen gemeinsam ist aber der große Aufbruch, der sich zu einer wichtigen Hoffnung entwickelt. Der Wunsch nach Halt in einer plötzlich auseinanderfallenden Welt wird zum großen Problem. Auch ein unvermittelter Heiratsantrag trifft ins Leere. Vor allem die beklemmenden Szenen im Polizeirevier gehen stark unter die Haut. Als ein Polizist als „fetter Negerkuss“ bezeichnet wird, eskaliert die Situation. Menschen verlieren ihre bürgerlichen Rechte, doch es macht sich starker Widerstand breit. Und als man einen Epileptiker festhält, droht eine junge Frau der Polizei, alles an die Öffentlichkeit zu bringen. So könne es nicht weitergehen.

Der britische Dramatiker Simon Stephens schrieb „Rage“ 2016 als eine Reaktion auf Elfriede Jelineks Stück „Wut“, in dem sie eine europäische Gegenwart voller Ressentiments zeichnet. Das kommt bei der Inszenierung in der Ausstattung von Prisca Baumann auch gut zum Vorschein. Stephens geht in seinem Stück von einer Bilderserie des Fotografen Joel Goodman aus, die eine zentrale Kreuzung in Manchester in der Silvesternacht 2015/16 zeigt. Musik und Video von David Jegerlehner beleuchten diese Vorgänge eindringlich. Aufgeklärtheit schwankt hier zwischen erschreckender Paranoia und entgrenztem Hass: „So geht man mit Menschen in der Öffentlichkeit nicht um!“ Die gewaltigen Erschütterungen Großbritanniens durch den Brexit lassen sich jetzt nicht mehr verbergen. Simons Stephens, der David Cameron 2011 den „schweinegesichtigen Ziehsohn Margaret Thatchers“ nannte, entwirft in dieser atemlos-gehetzten Inszenierung von Sophia Bodamer das Bild einer hoffnungslos zerrissenen Gesellschaft, die sich immer wieder selbst infrage stellt oder sogar auslöscht. Für Stephens ist die Situation in London für den Brexit verantwortlich, denn London hat sich seiner Meinung nach den Reichtum aus dem Rest des Landes gesaugt. Die Ressourcen wurden ausgequetscht. Und so agieren die Schauspieler auch, die sich als Gruppe gegen rassistische Schmierereien auf der Straße wehren. In der Straßenbahn beleidigen zwei Jugendliche einen Mann, es kommt zu einer regelrechten Entfremdung der politischen Klasse, was die Inszenierung überzeugend herausarbeitet. „Jede Form von Rassimus ist unvorstellbar“, lautet aber das Motto. Und die jungen Leute bekennen heroisch: „Das wird unser Jahr.“ Das Schulsystem ist nach Ansicht von Simon Stephens darauf ausgerichtet, das Denken einfach zu unterbinden. Das bringen die Schauspieler beklemmend über die Rampe. Die Verzweiflung über ein verpfuschtes Bildungssystem steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Requisiten mitsamt dem Kleiderschrank werden immer wieder hektisch hin- und hergeschoben: „Die Fotzen und die Homos übernehmen die Macht!“ Die Jugendlichen sind darin gefangen.

Es ist ein dichtes darstellerisches Spiel, das die jungen und talentierten Schauspieler aber noch intensivieren können. Der Autor Simon Stephens möchte ein England verteidigen, das den Faschismus bekämpft hat und auf das er stolz ist. 

Alexander Walther

 

Diese Seite drucken