Premiere „Nathanael“ nach E. T. A. Hoffmann am 8. 2. 2022 im Schauspiel Nord/STUTTGART
Sequenzen wie im Stummfilm
Henning Mitwollen, Julian Moritz. Foto: Bjoern Klein
Dem Studenten Nathanael fällt es schwer, sich in der Realität zurechtzufinden. Er verliert den Lebensüberblick aufgrund seiner Beziehungskrise mit Clara. In der Inszenierung von Jannik Graf ist er geprägt von wilden Verfolgungsfantasien, die ihn ratlos zurücklassen. Seine Gefühle versucht er immer wieder in künstlerischen Ausdrucksformen zu verarbeiten. In der mysteriösen Person, die ihn ständig verfolgt, entdeckt er schließlich den „Sandmann“: „Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten.“ Als er schon fast den Verstand zu verlieren scheint, tritt plötzlich die schöne Olimpia in sein Leben. Seine Existenz scheint jetzt doch noch einen Sinn zu haben.
Diese Adaption nach E.T. A. Hoffmanns berühmter Erzählung „Der Sandmann“ spielt zwischen Nebelbänken und einer unheimlichen Atmosphäre auch mit alptraumhaften Stummfilmsequenzen. Dabei wird aus dem Text Hoffmanns immer wieder zitiert. Es herrscht ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und subjektiver Wahrnehmung. Nathanael hat eine ganz eigene Art, die Welt wahrzunehmen. Clara hingegen sieht ihre Umgebung sehr rational. Liebe und Angst stehen also dicht beieinander und werden für Nathanael schließlich bedrohlich. Bühne und Kostüme von Constanze Müller passen sich dieser gespenstischen Atmosphäre an. Henning Mittwollen als Nathanael arbeitet überzeugend heraus, wie die eigentlich leblose Puppe Olimpia schließlich zur Erfüllung von seinen Sehnsüchten wird.
Julian Moritz, Larissa Pfau und Henning Mitwollen. Foto: Bjoern Klein
Für den Regisseur Jannik Graf steht das künstliche Bewusstsein dabei im Mittelpunkt. Die Kreation einer synthetischen Seele befindet sich plötzlich im Zentrum. Bei dieser Inszenierung tauchen immer wieder zentrale Elemente aus der Vorlage auf und verweben sich mit neuem Text. So entsteht eine Spirale mit Filmperspektive, die durchaus reizvoll und interessant ist. Hinzu kommt, dass die Schauspieler gleich mehrere Rollen spielen. Julian Moritz mimt ausdrucksstark Clara, Professor Spalanzani und Siegmund, während Larissa Pfau Olimpia, eine mysteriöse Person und Lothar facettenreich verkörpert. Die suggestive Musik von Margarethe Zucker verstärkt den dämonischen Charakter des Stücks zwischen Alptraum und Realität. Julian Moritz stellt als geifernder Professor Spalanzani in verzerrten Video-Passagen den gruseligen Verfremdungseffekt der Wirklichkeit krass heraus. So entsteht eine fragile Welt aus Schattengestalten und surrealen Visionen. Die Bühne verändert sich ständig, was auch für die Schauspieler gilt. Utensilien erscheinen wie große Segel, auf denen Nathanael mit Lohar hin- und herfährt. Für die Bühnenbildnerin Constanze Müller ist die Farbe Blau wichtig, weil sie Assoziationen zu den verschiedenen Ebenen des Träumens besitzt. Sie hat laut eigener Aussage auch Dali-Gemälde im Kopf gehabt. Der leidenschaftlich-fanatische Impetus des Werks wird dadurch unterstrichen. Und ein schwarz-weißer Marmorboden erinnert als „Spiel des Lebens“ an ein riesiges Schachbrett. Clara grenzt sich trotz ihrer großen Liebe zu Nathanael letztendlich am meisten von ihm ab. So macht Olimpia den verzweifelten Studenten Nathanael schließlich wahnsinnig. Und Larissa Pfau mimt die mysteriöse Person, die sich als der „Sandmann“ Coppelius entpuppt, der Nathanael dazu zwingt, sich von der Galerie in den Tod zu stürzen: „Wartet nur, der kommt schon herunter von selbst“. Auch die Explosionen im Haus, bei denen Nathanaels Vater durch Coppelius‘ Schuld getötet wird, erreichen bei der spannenden Inszenierung eine ungewöhnlich starke Präsenz. Das „Teufelsbild“ des Coppelius überträgt sich dabei auf den Vater: „Mir war es, als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer“. Die eingeschränkte Sichtweise des Lebens führt hier tatsächlich bei Nathanael zu einer schweren psychischen Störung. Seine in vier Phasen verlaufende Krankheit pendelt zwischen Wahnsinn, Vernunft, Geisteskrankheit und Liebeswahn hin und her. Viel Applaus und „Bravo“-Rufe für diese Kooperation mit der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg.
Alexander Walther