Premiere „Hitze“ nach Victor Jestin im Schauspiel Nord am 19. Juli 2022/STUTTGART
Verwirrende Dreiecks-Konstellation
Foto: Björn Klein
Nach dem Roman „Hitze“ von Victor Jestin ist dieses Stück entstanden, das bestens zur Jahreszeit passt. In der Inszenierung von Sarah Rindone (Bühne: Veronika Scharbert, Kostüme: Lorna Sherry) gerät der zentrale Konflikt rasch in den Mittelpunkt.
Der siebzehnjährige Leonard verbringt den Sommer mit seiner Familie auf einem Campingplatz an der französischen Antlantikküste. Er hat sich von den Gleichaltrigen abgesetzt und fühlt sich fremd unter den anderen Jugendlichen, die nur auf Party, Alkohol und Flirten aus zu sein scheinen. Leonard trifft auf Oscar und beobachtet dann, wie dieser auf einem Spielplatz Selbstmord begeht. Er betrachtet das Geschehen und wartet ab, bis Oscar tot ist. Er vergräbt den toten Körper im Sand. Die Frage nach der Schuld an Oscars Tod nimmt Leonard mit in seinen letzten Ferientag: „Ich habe Oscar getötet!“ Der Tote belastet ihn schwer, die harten Selbstvorwürfe nehmen zu. Und der dramaturgische Spannungsbogen der Inszenierung steigt in diesem Zusammenhang immer weiter. Hinzu kommt, dass die anhaltende extreme Hitze seinen Gemütszustand stark belastet. Luce erscheint wie aus heiterem Himmel, die zuvor noch Oscar geküsst hat und plötzlich Interesse für Leonard zeigt. Das Absurde sticht immer wieder aus diesen seltsamen Lebensentwürfen hervor – ganz im Sinne von Albert Camus, der das Romandebüt „Hitze“ von Victor Jestin stark beeinflusst hat. Die Philosophie des Absurden steht hier deutlich im Zentrum des Geschehens und beherrscht auch das Bühnenbild, das sich zuletzt dreht und in sich zusammenfällt. Seelische Vorgänge werden in die subtile visuelle Bildsprache übersetzt.
Foto: Björn Klein
Sowohl Leonard als auch Camus‘ Protagonist Meursault können ihr Handeln nicht rational begründen. Die drei versierten Darsteller Cora Kneisz, Till Krüger und Marius Petrenz schlüpfen dabei wiederholt in unterschiedliche Rollen, wobei die verwirrende Dreicks-Konstellation zwischen Leonard, Oscar und Luce im Zentrum der Handlung steht. Dem Menschen wird seine eigene Fremdheit zum Verhängnis, die vergebliche Vereinigung mit der Welt ist das größte Problem. Bei Victor Jestin wird Camus‘ Philosophie des Absurden zu einem imagnären Campingplatz, auf dem die Protagonisten ihre Neurosen ausleben. Schuld oder Unschuld stehen dicht beieinander. Die Frage nach dem Ich bleibt nicht aus. Wo gibt es bewusste Entscheidungen? Warum handelt der Mensch oft nur aus Reflex? „An sich ist diese Welt nicht vernünftig – das ist alles, was man von ihr sagen kann“, betonte Albert Camus. Der Existentialismus eines Jean-Paul Sartre hat hier ebenfalls deutlich Pate gestanden. Man kann diese dichte und auch packende Inszenierung als durchaus existenzialistisch bezeichnen. Der gottverlassene, nur auf sich selbst gestellte Mensch befindet sich ständig in einer absurden und unmöglichen Situation. Er handelt kopflos und ohne Logik. Am Ende steht der Tod, gegen den Albert Camus heftig rebelliert. Auch hier rebellieren die handelnden Personen gegen den Tod, Leonard scheint an seinen Selbstvorwürfen zu ersticken. Und doch kann er Oscars Selbst-Erdrosselung nicht verhindern. Es muss eine neue Ethik geben, durch die das Los aller Menschen verbessert werden kann.
Dies ist die Botschaft, die dieser Theaterabend aussendet. Das metaphysische Verhängnis lässt sich wie bei Albert Camus‘ Drama „Caligula“ letztendlich aufhalten. Vielleicht könnten Bühnenbild und Schauspieler an manchen Stellen noch dichter zusammenwachsen. Insgesamt überzeugt die Inszenierung jedoch aufgrund des spieltechnischen Feuers und der Klarheit der Aussage. Die Angst der Jugendlichen vor dem sexuellen Versagen kulminiert in einem absurden Leistungsprinzip, dem sie nicht gewachsen sind.
Alexander Walther