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STUTTGART/ Schauspielhaus: EIN VOLKSFEIND von Henrik Ibsen. Premiere

24.09.2022 | Theater

Premiere „Ein Volksfeind“ von Ibsen am 24.9.2022 im Schauspielhaus/STUTTGART

Das Kurbad und seine Probleme

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Mathias Leja. Foto: Toni Suter

Dichten heißt Gerichtstag halten über sich selbst“ – dieser Satz stammt von dem großen norwegischen Dichter Henrik Ibsen, der die Wunden der Gesellschaft wie ein Seelenarzt sezierte. In diesem Zusammenhang steht auch der Kontext seines Schauspiels „Ein Volksfeind“. Es ist die Kampfansage an die bürgerliche Welt seiner Zeit, die in einer „Lebenslüge“ untergeht. Und die Parallen zu unserer heutigen Weltlage sind geradezu erschreckend. Das Kurbad einer verschuldeten Kleinstadt verspricht immer noch wirtschaftlichen Aufschwung. Touristen und Badegäste sollen in diesen besonderen Ort gelockt werden. Doch der von Ibsen als „grotesker Bursche und Strudelkopf“ bezeichnete Badearzt Tomas Stockmann macht eine fatale Entdeckung: Das angeblich heilende Wasser ist verseucht und vergiftet. Schuld daran ist offensichtlich die Fabrik seines Schwiegervaters – ein Umweltskandal bahnt sich an. Stockmann will sich mit den Lügen der Stadtverwaltung nicht abfinden. Er will die Mißstände an die Öffentlichkeit bringen. Doch sein Bruder möchte dies als Bürgermeister der Stadt um jeden Preis verhindern. 

In der subtilen Regie von  Burkhard C. Kosminski (Bühne: Florian Etti; Kostüm: Ute Lindenberg) werden die heftigen Auseinandersetzungen auf der drehbaren Bühne nicht verleugnet. Das Problem ist, dass die Stadt durch die Aufdeckung des Skandals ihre einzige Einnahmequelle verlieren würde. Der Freund und Chefredakteur Hovstadt und sein Verleger Aslaksen wollen Tomas Stockmanns Bericht auf die Titelseite ihrer Zeitung, den „Volksboten“, setzen. Bürgermeister Peter Stockmann will dies als erboster Bruder unter allen Umständen verhindern und startet eine raffinierte Gegenkampagne mit Verschleierungstaktik. Dabei steigert sich auch der dramaturgische Spannungsbogen dieser Inszenierung ganz erheblich. Aus Angst vor Schulden und dem Verlust von Arbeitsplätzen eskaliert die Situation. Der Bürgermeister sieht schließlich seine Wiederwahl gefährdet und geht gegen den eigenen Bruder vor. Tomas Stockmann schlägt jedoch alle Kompromisse in den Wind – er ruft eine „Revolution“ aus. Bürgerschaft, Presse und Politik setzen sich  zur Wehr.

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Katharina Hauter, Matthias Leja, Klaus Rodewald. Foto: Toni Suter

Chefredakteur Hovstadt und sein Verleger Aslaksen weigern sich schließlich, Tomas Stockmanns Artikel in ihrem Blatt zu drucken. Sie fallen moralisch um. Tomas Stockmann scheitert nicht nur an der Gesellschaft, sondern auch an der eigenen Familie, seinem Bruder und seinem Schwiegervater. Er wird zur Karikatur seiner selbst. Und in der Zeitungsredaktion sieht man auf Fahnenplakaten riesige Schlagzeilen, die in fataler Weise in sich zusammenstürzen. Sozialkritische Anklage und beissende Satire wechseln sich ab, was die Schauspieler überzeugend über die Rampe bringen. Matthias Leja gelingt es als Doktor Tomas Stockmann, seine grenzenlose Verzweiflung über eine verlogene Gesellschaft zum Ausdruck zu bingen. Als seine Frau Katrine Stockmann liefert Katharina Hauter ebenfalls ein überzeugendes  Rollenporträt. Sven Prietz mimt den verschlagenen Bürgermeister Peter Stockmann, der als Tomas‘ älterer Bruder alle Fäden zusammenhält. Boris Burgstaller ist Katrine Stockmanns besorgter Pflegevater, der die Situation nicht retten kann. Starke Charaktere sind bei dieser dramaturgisch dichten Aufführung ferner Klaus Rodewald als Redakteur des „Volksboten“ sowie Marco Massafra als undurchsichtiger  Verleger Aslaksen, die Tomas Stockmann schließlich eiskalt fallenlassen. „Journalisten sind Arschgeigen“, bekennt Hovstad selbst. Matthias Leja als Tomas Stockmann kann seiner Rolle elektrisierende Ausdruckskraft verleihen. Heinrich George und Werner Krauß waren berühmte Darsteller dieser Figur – aber Matthias Leja setzt bei seiner Interpretation durchaus eigenständige Akzente mit vielen Facetten.

Schließlich lässt der Regisseur Burkhard C. Kosminski die Welt zusammenstürzen. Es kommt tatsächlich zur Revolution und das Volk rebelliert. Die Bühne versinkt im Chaos. Doktor Tomas Stockmann bleibt bis zuletzt der unbeugsame Kämpfer. Er will am Ort bleiben und den Kampf um Wahrheit, Sauberkeit und Recht fortsetzen: „Der ist der stärkte Mann der Welt, der allein steht.“ Auch seine Frau hält zu ihm.  Die Ähnlichkeit Tomas Stockmanns zu Peer Gynt arbeitet Burkhard C. Kosminski einfühlsam heraus. Auch dieser Held sucht die wahre Heimat, sehnt sich nach Seelenruhe. Und doch wird er auch hier den Nimbus des unverbesserlichen Idealisten und Narren nicht los. Tomas Stockmann vereinsamt in dieser packenden Inszenierung in dem Maße, wie er die Gesellschaft kritisiert. Sein Idealismus kann nicht verwirklicht werden. Die daraus resultierenden ungeheuren seelischen Spannungskonflikte kommen so drastisch zur Geltung. Tomas Stockmanns Anspruch, Bad und Kurort zu  sanieren, ist zwar berechtigt, würde aber bei der Umsetzung den Ruin des Ortes als Kurort bedeuten. Seine Situation  ist also tatsächlich aussichtslos.

Und so endet in Stuttgart auch das Stück. Als Tomas Stockmann zu reden beginnt, bricht plötzlich die Szene ab und alles versinkt in Dunkelheit. Dieser Schluss wirkt vielleicht zu abrupt, zu unvermittelt. Er lässt die Zuschauer irgendwie ratlos zurück. Die ironische Gestaltung der Handlung erreicht zugleich ihren Höhepunkt, als sich Tomas Stockmann zu neuen Aufgaben im Bereich Bildung und Erziehung entschließt. Sarkastisch wirken auch immer wieder die Szenen in dem recht heruntergewirtschafteten Redaktionsbüro. Die ganze Gesellschaft verliert ihr Gesicht. Das Publikum quittierte diese Premiere mit viel Applaus.

Alexander Walther

 

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