Lena Stamm. Foto: Jeanne Degraa
Heinrich von Kleists „Marquise von O…“ am 26.10.2019 im Schauspiel Nord/STUTTGART
TRAUMATISIERT UND GEFESSELT
In der subtilen Regie von Zita Gustav Wende wird diese berühmte Novelle Heinrich von Kleists doch sehr lebendig: „Der Aufruhr, der ihre Brust zerriss, legte sich, als sie im Freien war, sie küßte häufig die Kinder, diese ihre liebe Beute.“ Das packende Geschehen wird hier im emotionalen Rückblick erzählt, die die drei intensiven Darsteller Noelle Haeseling, Lena Stamm und Joseph Cyril Stoisits gut einfangen. Im Zuge einer kriegerischen Auseinandersetzung wird eine Frau (die Marquise von O…) von einem feindlichen Trupp in einen Hinterhalt getrieben und brutal misshandelt. Ein Offizier kommt ihr zu Hilfe, entreisst sie aus der Gewalt der Soldaten und bringt sie an einen sicheren Ort. Dort bricht sie an seiner Seite ohnmächtig zusammen, nachdem beide auf die sichere Seite des brennenden Palastes geflüchtet sind.
Lena Stamm gelingt es ganz ausgezeichnet, die traumatisierte und seelisch gefesselte Marquise vor den Augen der Zuschauer lebendig werden zu lassen. Sie erfährt, dass sie aufgrund einer Vergewaltigung schwanger geworden ist. Ihre Kinder lassen dieses dramatische Geschehen später Revue passieren: „Dein Vater hat unsere Mutter vergewaltigt…“ Sie war „die verwitwete Marquise von O…, eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern.“ Seit dem Tod ihres Mannes war sie mit keinem anderen Mann mehr zusammen. Dennoch wirft ihr ihre Familie Betrug und Kalkül vor. Lena Stamm hetzt als Marquise atemlos und verzweifelt hin und her, betont immer wieder, dass sie unschuldig sei. Im Bühnendreieck spielen sich auf dem Sandboden wiederholt unterschiedliche Szenen ab. Der Sohn badet ausgiebig, die Geschwister kämpfen scherzhaft miteinander, versuchen, das tragische Geschehen einfach auszublenden, was natürlich nicht immer gelingt. Die Marquise von O… bricht aus ihrer scheinbar ausweglosen Situation gewaltsam aus. Mithilfe einer Zeitungsanzeige sucht sie den Mann, der sie in diese Umstände brachte. Sie ist entschlossen, diesen Mann zu heiraten. Er soll sich melden. Da gibt es plötzlich drei Perspektiven und drei Wahrheiten, die die durchaus einfühlsame Regisseurin Zita Gustav Wende auf den Punkt bringt (Bühne und Kostüme: Katharina Grof). Denn Jahre später treffen die Kinder der Marquise von O… im Elternhaus aufeinander. Die drei Geschwister beginnen, in Bruchstücken ihre Erinnerungen zusammenzusetzen und schlüpfen dabei auch in unterschiedliche Rollen. Da kommt die erschütternde Tat zum Vorschein, die ein schweres Erbe hinterlässt. Der Körper der Marquise von O… wird von der Familie als Sinnbild für Ehrgefühl und Sitte beansprucht. Da Vergewaltigung und Schwangerschaft eine Schande sind, droht die junge Frau daran zu zerbrechen.
Die Inszenierung von Zita Gustav Wende möchte der bildhaften Sprache von Kleists Novelle folgen, was auch weitgehend gelingt – grotesk oder lyrisch und melancholisch. Alles konzentriert sich ganz auf die Erzählperspektive der Kinder, die aber auch immer wieder in die Rollen der Eltern zu schlüpfen scheinen. Dieser Verwandlungsprozess verläuft durchaus geheimnisvoll und hintersinnig. Das Werk entstand in einer Zeit, wo die Ideen der Aufklärung den Absolutismus der Ständegesellschaft und die Herrschaft der Kirche in Frage stellten. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft hatte sich so drastisch verändert, was die Inszenierung aufgreift. Manches Detail könnte so auch noch präziser zum Vorschein kommen. Die Widersprüchlichkeit von Gut und Böse in einer Person tritt grell hervor. Dies machen die drei Schauspieler überzeugend deutlich. Der konfliktreiche Zusammenhang von Liebe und Gewalt wird beleuchtet. Assoziationen zu anderen Kleist-Werken tun sich auf – so beispielsweise „Penthesilea“, „Die Familie Schroffenstein“ oder „Das Erdbeben in Chili“. Bei der Marquise von O… lässt das dramatische Geschehen durchaus ein gewaltiges seelisches Erdbeben entstehen – eine Tatsache, die die versierte Darstellerin Lena Stamm packend betont. Biblische Motive wie die Jungfrauengeburt werden hier suggestiv thematisiert. Und das Motiv der unwissentlichen Schwangerschaft kommt schon bei Michel de Montaignes „Essai über die Trunksucht“ (1588) vor. Das problematische Vater-Tochter-Verhältnis wird dabei ebenfalls thematisiert – etwa dann, wenn geschildert wird, wie der Vater seine Tochter wie eine Geliebte küsst. Den Gegensatz von Engel und Teufel im Charakter des Grafen stellt Kleist auf mehreren Ebenen dar, die sich überlagern. So soll sich der heiratswillige Graf F. immer wieder gedulden. Dieser ungewollte psychische Aufschub entlädt sich schließlich in einer Vergewaltigung. Diese Tatsache lässt Zita Gustav Wende bei ihrer sehenswerten Inszenierung nicht ohne Ironie deutlich werden. Die Familie bereitet sich so wie hypnotisiert auf die Erscheinung des unbekannten Kindsvaters vor. Der Graf wird von Kleist als „sehr erhitzt im Gesicht“ beschrieben. Eine Charakterisierung, die auf die gesamte Situation punktgenau passt.
Es ist eine aufwühlende Inszenierung, deren Aktualität hervorsticht. Die Sprache wird hinsichtlich des unaufhörlich wiederholten Attribut-Wörtchens „dass…“ (von Joseph Cyril Stoisits exaltiert gesprochen) regelrecht zerlegt. Zuletzt geht abrupt das Licht aus. Es ist eine Kooperation mit der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit der Staatlichen Akademie für Bildende Künste Stuttgart.
Alexander Walther